Juno Vorlesen

27. Aug 2021Laura Müller
Transgender, Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Menschen sollen mutig sein.
Menschen sollen Stärke zeigen.
Egal, was passiert.
Egal, wie schwer das ist.
Denn oft ist es verdammt schwer, mutig und stark zu sein.
Ich bin es an den aller-wenigsten Tagen.
So fühlt es sich jedenfalls an.
Besonders im Moment.
Im Moment müssen wir alle viel mutiger und stärker sein als sonst.
Denn unser ganzes Leben ist anders und manche Menschen müssen Angst um ihre Gesundheit haben.
Durch das Corona-Virus leben wir in einem weltweiten Ausnahme-Zustand.
Vieles hat sich verändert, vieles ist schwieriger geworden.
Wir müssen auf Dinge verzichten, die wir lieben.
Wir müssen uns ans neue Regeln halten, die das Leben kompliziert machen.
Wir müssen besonders stark aufeinander aufpassen.
Füreinander mutig sein.

Aber wie genau ist man eigentlich mutig?
Was machen starke Menschen, um stark zu sein?
Woher weiß man, ob man stark oder schwach ist, mutig oder ängstlich?
Sucht man sich das aus oder wird man so geboren?
Um das herauszufinden, möchte ich euch eine Geschichte erzählen.
Sie hat nichts mit dem Corona-Virus zu tun.
Meine Geschichte erzählt von einer anderen Art, wie man mutig und stark sein kann.
Es geht um das Leben einer besonderen Person.
Diese Person ist meine Cousine.
Sie ist der mutigste Mensch, den ich kenne.
Sie musste so stark sein wie niemand sonst, den ich kenne.
Warum das so ist, erkläre ich euch jetzt.

Ich habe ein ziemlich normales Leben.
Meine Familie ist an den meisten Tagen wunderbar, kaum auszuhalten an anderen Tagen.
Also eine ziemlich normale Familie.
Bis auf ein Familien-Mitglied: Mein Cousin Juri.
Er heißt eigentlich Jurek, aber alle nennen ihn Juri.
Das war schon immer so.
Er hat feuer-rote Haare und eine Stimme, um die ihn alle beneiden.
Er singt in einem Chor für Jungen, die besonders schön singen können.
Er möchte mal berühmt werden mit seiner Stimme. Pop-Star, am liebsten.
Juri trägt oft die Klamotten von seiner Schwester.
Das war schon immer so.
Früher vor allem Prinzessinnen-Kleider und goldene Schuhe.
Er liebt Nagel-lack und Schminke.
Er kennt sich damit besser aus als wir alle.
Juri sieht in allen Menschen das Gute.
Auch das war schon immer so.
Juri ist ziemlich besonders.

Warum erzähle ich euch von Juri?
Was hat er mit meiner Cousine zu tun?
Das ist ziemlich einfach:
Juri ist meine Cousine.
Denn Juri heißt seit einem Jahr Juno.
Und Juri ist seit einem Jahr eine Frau.
Dabei war Juri eigentlich immer schon Juno.
Das klingt komplizierter, als es ist.
Ich möchte versuchen, es euch zu erklären.
Jeder Mensch wird als Mann oder Frau geboren.
Daran passt sich unser Name an.
Daran passt sich so ziemlich unser ganzes Leben an.
Aber für manche Menschen ist das falsch.
Manche Frauen wissen, dass sie lieber ein Mann wären.
Und manche Männer möchten gerne eine Frau sein.
So wie meine Cousine Juno.
Man nennt das in der Wissenschaft: Gender-Dysphorie.
Das bedeutet, im falschen Körper geboren zu sein.
Solche Menschen fühlen sich unwohl in ihrem eigenen Körper.
Weil sie dort nicht hingehören.
Weil sie eigentlich ein anderes Geschlecht haben möchten.
Ihr Körper ist dann wie ein Gefängnis, aus dem sie nicht herauskommen.
Das muss ein schreckliches Gefühl sein.
Dieses Gefühl musste meine Cousine Juno zwanzig Jahre lang aushalten.
Seit einigen Jahren gibt es zum Glück Wege, diesen Menschen zu helfen.
Ärztinnen und Ärzte können Operationen durchführen, die das Geschlecht einer Person verändern.
Nach so einer Operation kann ein Mann den Körper einer Frau haben.
Und anders-herum.
Diese Operationen sind schmerzhaft.
Es dauert lange, bis die Wunden heilen.
Aber die Menschen können so das Leben leben, das sie sich wünschen.
Und endlich die Person sein, die sie immer schon waren.

Leider können das manche nicht verstehen.
Sie denken, Gender-Dysphorie ist eine Krankheit.
Oder dass Menschen, die sich so fühlen, verrückt sind.
Oder Schlimmeres.
Das macht es so schwierig für Menschen wie meine Cousine Juno, ehrlich zu sein.
Viele sagen zu einem: „Sei einfach nur du selbst.
Das ist ganz leicht.
Das Leichteste auf der Welt.“
Doch für Menschen wie Juno kann das ein lebens-langer Kampf sein.
Um sie selbst sein zu können, müssen sie einen Teil von sich aufgeben.
Sie müssen ihr Aussehen, manchmal ihren ganzen Körper verändern.
Sie müssen Schmerzen erleiden und Geduld haben.
Und sie müssen hoffen, dass die Gesellschaft sie versteht.
Dabei sollte es ganz selbst-verständlich sein, alle Menschen zu akzeptieren.
Akzeptieren heißt, jemanden genauso anzunehmen, wie er oder sie ist.
Menschen, die das nicht tun, haben häufig Angst vor Unterschieden.
Und vor lauter Angst fangen sie an, diese Unterschiede zu hassen.
Aber das ist nicht die Lösung und ändert nichts daran, dass wir alle unterschiedlich sind.
Um Angst und Hass zu verhindern, ist es ganz wichtig, andere Menschen zu verstehen.
Man könnte die andere Person zum Beispiel fragen:
„Wer möchtest du sein und wie möchtest du dein Leben leben?“
Wo Verständnis ist, hat Hass keinen Platz.
Aber bis die Welt das begreift, ist es noch ein weiter Weg.
Und Menschen wie Juno müssen schon als Kinder stärker sein, als sie sein sollten.

Trotzdem denkt man nicht immer direkt an Menschen wie Juno, wenn man an mutige Personen denkt.
Viele sagen: „Wenn ich mutig sein möchte, muss ich etwas Besonderes tun.
Etwas Gefährliches oder Wildes.
Damit alle Leute sehen, wie viel Mut ich habe.“
Doch in Wahrheit ist es ganz anders.
In Wahrheit ist Mut etwas ganz anderes.
Das Schwierigste im Leben ist nicht, mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen.
Das Schwierigste im Leben ist, einfach man selbst zu sein.
Zu wissen: „Das bin ich und genau so, wie ich bin, bin ich richtig.“
Sich selbst richtig gut zu kennen.
Und sich selbst zu akzeptieren.
Also sich selbst gut zu finden, so wie man ist.
Egal, was andere Menschen denken.
Egal, was andere Menschen von einem erwarten.
Nichts kostet mehr Stärke als das, was eigentlich das Einfachste und Normalste überhaupt sein sollte:
Ich selbst sein.
An meinen Wünschen und Träumen, Ängsten und Hoffnungen festhalten.
Auch dann, wenn sich andere von mir abwenden oder mich nicht verstehen.
Denn Menschen, die mich nicht verstehen, wird es immer geben.
Aber auch Menschen, die mich bewundern und akzeptieren, wird es immer geben.
Dafür, dass ich bin, wie ich bin.
Dafür, dass ich immer versuche, ich selbst zu sein.
Egal, wie viel Stärke und Mut es mich kostet.

Meine Cousine Juno hat das geschafft.
Jeden Tag hat sie dafür gekämpft, sie selbst sein zu können.
Und jetzt hat sie es geschafft.
Sie wird endlich als die Frau gesehen, die sie immer schon war.
Auf der Straße fragen uns die Leute, ob wir Schwestern sind.
Nichts macht sie glücklicher.
Und nichts macht mich stolzer.
Juno ist der mutigste Mensch, den ich kenne.
Und eins habe ich von ihr gelernt:
Zu sich selbst zu stehen, kostet Stärke.
Mehr Stärke und Mut als alles andere.
Aber ich weiß jetzt:
Man kann seine Kraft für nichts Besseres im Leben einsetzen.
Also sei mutig!
Und sei stark!
Sei du selbst.

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