
Eins
Als ich meine Füße auf die Insel setzte, wurde es unwichtig, was mich hergebracht hatte. Meine Aufgabe im nächsten halben Jahr war denkbar einfach: hier sein, beobachten, aufzeichnen. Eine Holzhütte von sechzehn Quadratmetern, ausgestattet mit Matratze Schlafsack und Kochgeschirr, sollte mein Zuhause sein. Eine Taschenlampe und ein Fernglas, Instrumente einer anderen Welt, boten mir ihren Schutz an. Sie sind technische Versuche, die Wildnis zu zähmen, damit man sich in ihr nicht zu verloren vorkommt. Ein halbes Jahr sollte ich hier auf der Insel sein, ganz allein. Als das Boot wieder ablegte und langsam immer kleiner wurde, verschwand mit ihm der Rest der Welt.
Zwei
Über dem Pult hing eine genaue Karte meiner Insel: Land und Wasser, Watt und Strand, Wiese und Sumpf waren da verzeichnet und auch die bevorzugten Nistplätze der Vögel. Meine tägliche Aufgabe war es, die Insel zu umrunden. Das waren sechs Kilometer. Ich sollte dabei die Vögel beobachten und zählen.
Meine Hütte lag an der Spitze der Insel im Südwesten. Dort traf das Sumpfgebiet im Süden auf den langen Strand des Nordens und Westens. Ebbe und Flut haben im Osten eine lange Sandbank gebildet. Ich blickte erst auf das offene Meer vor mir und dann in die andere Richtung auf die Salzwiesen . Die Wiesen lagen unscheinbar da. Sie warteten auf wärmere Tage.
Drei
Am Abend ließ ich mein Lagerfeuer langsam ausgehen und löschte die letzte Glut mit Sand. Dann sah ich nichts mehr, nicht mal meine eigene Hand direkt vor meinen Augen. Die Dunkelheit fühlte sich an als würde sie auf meine Brust drücken.
Die undurchdringliche Schwärze der Nacht war anfangs wie ein Schock. Es war gar nicht so einfach, in der Dunkelheit meine Hütte zu finden. Bald aber wurden die Nächte heller und klarer, windig und kalt. Mit dem Schlafsack lag ich am Strand und guckte in den Sternenhimmel. In der Früh wachte ich mit Sand in den Augen auf.
Jeden Morgen umrundete ich die Insel. Damit war mein Tagwerk vollbracht. Es dauerte aber nicht lange, da ging ich am Mittag zusätzlich die Runde in die andere Richtung. Die Landschaft sah so irgendwie anders aus. Es schien mir als hätte ich zwei Inseln.
Vier
Die Vögel hatten ihren Tagesablauf und ich hatte meinen. Manchmal trafen wir uns. Frühstückte ich jeden Tag zu einer bestimmten Zeit, sah ich immer dasselbe Strandläuferpärchen. Die zwei Vögel liefen auf dem langen nassen Strand. Ich registrierte die Vögel, ich verzeichnete sie. Aber sie registrierten auch mich und wurden jeden Tag neugieriger. Einmal warf ich ihnen ein paar Krumen zu. Aber dann erinnerte ich mich, dass das verboten war. Ich sollte die Vögel nur beobachten. Nur gucken, nicht füttern!
Die Tage wurden länger, weil es langsam Sommer wurde. Am Morgen sah ich den Himmel und das Meer in Blau- und Grautönen. Ich lernte den Blick in die Ferne. Ich lernte den Nebel kennen und wusste bald, wann er kommt und wann er geht. Ich lernte auch, Wellen wie Bücher zu lesen. Jede Welle war wie eine Zeile in einem Buch.
Fünf
In der Dunkelheit flatterten kleine Wesen. Fledermäuse, dachte ich. Ich fühlte mich ihnen verwandt. Wir waren die einzigen Säugetiere der Insel. Ich vermisste die Menschen. Eine Stimme, die ein Wort zu mir sagt, fehlte mir. Auch Berührungen fehlten mir. Und Gesichter mit Augen und Ohren und Mund. Ich wünschte, dass jemand, all diese Organe benutzt, um mit mir in Kontakt zu sein.
Sechs
Es kam ein Sturm. Ich beobachtete den Himmel, las mehr in ihm als in meinem Buch. Ich suchte Anzeichen, dass der Wind sich dreht.
Dann wäre ich geschützt, aber er drehte sich nicht. Am Nachmittag wurde der Himmel dunkler und dunkler und färbte sich an den Wolkenrändern orange. Ich hatte so einen Himmel noch nie gesehen. Dieser Himmel machte mir Angst. Es gefiel mir nicht, dass das Unwetter auf den Abend wartete. Da war Flut. Sturmflut.
Ich blickte den Wolken entgegen, die dunkel von Westen heranzogen. Dann verbarrikadierte ich mich in meiner Hütte. Regen prasselte aufs Dach. Ich fror. Draußen hörte ich den Sturm und das Meer. Es war sehr laut und ich wusste nicht, ob ich in der Hütte sicher war. Der Sturm brach Holz vom Dach, an zwei Stellen tropfte es schon zu mir hinein. Die Brandung hörte sich nah an, aber ich traute mich nicht, die Tür zu öffnen. Im Schein meiner Taschenlampe sah ich nur die zitternden Winkel meiner Hütte.
Das Meer drang in die Hütte. Ich blickte auf die Uhr. Das Wasser würde noch eine halbe Stunde lang steigen, dann erst war Wasserhochstand. Ich konnte in der Hütte nicht bleiben. Ich musste raus. Raus in den Sturm.
Ich öffnete die Tür. Blitze erhellten die ungewöhnliche und fremde Landschaft. Meine Insel war mir fremd. Es war fast dunkel, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. Der Sturm wirbelte mich herum. Ich brauchte viel Kraft, um auf eine Düne zu klettern. Da war ich sicher. Dort oben überlebte ich den Sturm.
Sieben
Am Morgen sah ich ein Boot und auf dem Boot waren zwei Seemänner. Sie halfen mir. Es gab schwarzen Tee mit Zucker, Sahne und Rum gegen die Kälte. Der Strand war verdreckt. Plastikmüll, Treibgut, Fischernetze, Flaschen, Algen und Holzpaletten waren angetrieben worden. Das Dach von meiner Hütte fehlte zur Hälfte. Drinnen waren Sand und Schlamm mindestens einen halben Meter hoch. Das Wasser war sogar noch höher gekommen. Wir reparierten den Steg und die Hütte und machten Feuer. Es gab noch mehr Tee und noch mehr Rum. Der Himmel war blau. So blau, dass ich mir die dunklen Wolken von gestern gar nicht mehr vorstellen konnte. Es kam mir fast wie ein Traum vor, dass ich in Gefahr gewesen war.
Acht
Als ich die Augen öffnete, lag der lange weiße Sandstrand da wie ein rosaroter Teppich. Die Sonne der Morgendämmerung färbte alles rosa. Der Sandstrand sah weich und kuschelig aus. Ich sichtete meine Strandläufer und ging ihnen barfuß entgegen. Die Vögel spielten mit den kleinen Wellen des auflaufenden Wassers. „Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm, es kamen die Meere alle.“ Diese Zeilen hörte ich in meinem Kopf als würden sie von einer anderen Stimme gesprochen.
Mit einem der beiden Seemänner ging ich um meine Insel. Viele Nester der Vögel waren beim Sturm zerstört worden. Das machte mich traurig. Ich hatte die mühevolle Arbeit beobachtet, mit der die Seevögel ihre Nester gebaut hatten. Ich hatte gesehen, wie sie die Gräser und Moose sortiert hatten. Manchmal hatte ich auch einen Blick in ein Nest geworfen. Ich hatte nicht nur die Zahl der Eier notiert. Mit den Vögeln zusammen hatte ich mich auf den Nachwuchs gefreut. Manche Nester waren noch heile, manche waren zerstört.
Überall war das Gras aus den Nestern zerstreut. Diese Überreste waren jetzt das Material für neue Nester. Viele Vögel würden noch einmal ein Nest bauen, denn noch war der Sommer ganz am Anfang.
Neun
Am Abend legte das Boot ab. Die zwei Seemänner, die mir geholfen hatten, verließen meine Insel. Dann war der Sturm nur noch eine Erinnerung. Der Himmel war tiefblau und wolkenlos und die zwei Männer fort. Am nächsten Morgen waren die Strandläufer da und kamen mir sehr nahe. Wir begrüßten uns wie alte Freunde. Sie spielten mit den Wellen, während ich ein Feuer machte. Ich kochte auf dem Feuer Wasser für einen Tee. So war der Alltag auf meiner Insel.
Es passierte nicht viel auf der Insel, deswegen waren alle Tage gleich. Davon wird man ein bisschen verrückt. Ich hatte keine Lust mehr, meine Bücher zu lesen. Ich zählte lieber die Sandkörner am Strand. Und ich sprach mit den Vögeln.
Von einigen Vogelarten gab es sehr viele auf meiner Insel. Die Vögel dieser Arten konnte man kaum zählen. Deswegen musste ich ihre Zahl schätzen. In meinen Salzwiesen tummelten sich Gänse. Ich schätzte ihre Zahl. Doch dann wollte ich wissen, ob meine Schätzung gut war. So kam es, dass ich versuchte, die Gänse doch zu zählen. Es war ein Witz, denn es ging nicht. Die trägen Gänse bewegten sich kaum, aber das reichte, um mich durcheinander zu bringen. Dann zählte ich von vorn. Das beschäftigte mich tagelang. Ich träumte sogar vom Zählen.
Fast alle meiner Inselvögel waren Zugvögel. Sie waren nur im Sommer da. Als ob sie hier wie ich Urlaub machten. Ich versuchte, sie alle zu zählen. Ich wollte genau sein, keinen vergessen. Am Ende sollten alle im Buch stehen. Weil ich so viel zählte, begann ich plötzlich, alles zu zählen. Zum Beispiel die Sandkörner an meinem Strand.
Ich begann laut zu singen. Das sollte das Zählen aus meinem Kopf vertreiben. Und weil ich sang, hörte ich die Vögel plötzlich anders singen. Ich versuchte, ihre Laute nachzuahmen. Ein Kiebitz zeigte sich verwundert. Er hatte mich, das Menschenwesen, wahrscheinlich für stumm gehalten. Nun machte ich Geräusche wie ein Vogel. Hatte ich vergessen, dass ich kein Vogel war?
Zehn
Es war längst Sommer. Nachts wurde es nicht richtig dunkel. Die Abenddämmerung strahlte dunkelblau. Ich konnte mich nicht sattsehen an dem kühlen, leuchtenden Blau der Nacht. Dann umspülte die Flut meinen Steg. Ich lief den Strand hinunter, lief weiter auf dem trockenen, heißen Holz des Stegs und sprang kopfüber ins Wasser. Im Meer wurde mein Körper ganz leicht.
Wenn das Wasser weg war, standen die dicken Holzbeine des Stegs im Matsch. Auf diesen Pfeilern war eine klare Grenze zwischen trockenem und nassem Holz. So konnte ich sehen, wie hoch das Wasser noch wenige Stunden vorher gekommen war. Genau da war ich noch geschwommen, wo ich jetzt im Matsch stand. Manchmal spazierte ich durch das fast knietiefe Watt. Der Schlamm spritzte mir bis an die Oberschenkel. Dann stellte ich mir vor, ich liefe durch eine Unterwasserwelt: Ich spazierte auf dem Meeresgrund und stellte mir vor, die Luft sei das Meer.
Elf
Es wurde August. Im Norden der Insel wuchs auf den hohen Dünen Sanddorn. Ich probierte ein paar Beeren, sie waren bitter und noch nicht reif. Ich musste gähnen. Die Müdigkeit machte meinen Körper ganz schwer. Ich fühlte mich vergiftet. Ich hätte die Beeren nicht essen dürfen. Ich musste grundlos lachen. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich aufs Atmen.
Aus meinem Inneren tauchten Erinnerungen auf. Ich war ein Kind im Krankenhausbett. Ich war eine Frau, die mit Männern kämpfte. Ich war ein Mann mit einem Messer in der Brust. Ich war im Meer und gleichzeitig in der Luft. Ich war eine alte Frau in den Armen meines Mannes. Ich war ein tödlich verletztes Tier, das in seine Höhle kriecht. Ich war ein toter Körper auf dem Grund eines Sees in der Nacht.
Zwölf
Es war ein kühler Abend. Obwohl es noch nicht dunkel war, machte ich mir ein Feuer. Ich las Italo Calvinos Roman „Palomar“. Bei einem Satz hatte ich das Gefühl, das er mit mir zu tun hat: „Herr Palomar beschließt, von nun an zu tun, als wäre er tot, um zu sehen, wie die Welt ohne ihn weitergeht.“ Was ist eigentlich der Unterschied, fragte ich mich, zwischen Totsein und dem Leben auf einer einsamen Insel? Das Lesen wühlte mich sehr auf. Eigentlich war ich auf dieser Insel wie begraben. Weit weg von anderen Menschen. Ich konnte nur das Meer und seine Wellen beobachten. Wie Palomar in dem Buch konnte ich so versuchen, die Welt zu verstehen.
Dreizehn
Es war für mich bald Zeit, die Insel zu verlassen, als ein Segelboot Schiffbruch erlitt. So hatte ich für eine Nacht zwei Gäste auf meiner Insel. Einen Mann und eine Frau. Sie waren neugierig.
Sie fragten: „Was machst du denn hier draußen?“
Und ich antwortete: „Ich möchte mich verwandeln.“
Ich kümmerte mich um das Feuer. Die Flammen bewegten sich langsam. Der Mann stand auf und stellte sich neben mich ans Feuer. Das offene Meer hatten wir im Rücken. Ich spürte, wie die Bewegungen der Gezeiten umschlugen. Ablaufendes Wasser wurde zu auflaufendem Wasser. Das Meer kam langsam näher, während wir ins Feuer blickten.
„Das Meer kommt“, sagte ich zu der Frau.
„Der Mond bringt es her“, ergänzte der Mann.
Die Frau strich über meine Arme und sagte: „Sieh dich an, wie sehnig und muskulös du bist. Vielleicht bist du hier langsam ein Tier geworden.“
Sie nahm meine Hände und hob sie seitlich von meinem Körper auf Schulterhöhe.
„Flieg“, flüsterte sie.
Vierzehn
Es brach die Zeit der tränenden Augen an, denn der Wind blies unablässig über den Strand. Nirgends gab es ein sicheres Versteck vor den herumwirbelnden Sandkörnern. Sie kratzten in den Augen. Und dennoch wollte ich nicht fort. Ein halbes Jahr auf einer Insel ist ausreichend Zeit, um sich den Menschen zu entfremden. Ich war so abgeschnitten von der Welt, dass ich mich scheute, zu ihr zurückzukehren. Meine Erlebnisse wollte ich aber doch jemandem erzählen. Ich hatte nicht nur Wellen und Wolken beobachtet, Vögel und Sandkörner gezählt. Ich hatte Abenteuer erlebt.
Fünfzehn
Ich wusste, dass ich nicht zurückkehren würde. Sie würde Vergangenheit werden. Ich warf einen letzten Blick auf die Karte der Insel. Sie verzeichnete alle Orte, die sehr vertraut geworden waren. Da war die große Düne im Norden. Von der aus habe ich einmal eine Kornweihe im Tiefflug beobachtet. In den Salzwiesen im Süden habe ich viele Jungvögel aufwachsen sehen. Dort hatte ich begonnen mit den Vögeln zu sprechen. Alle Orte waren jetzt belebt mit Erinnerungen. Jeder Sumpf und jede Salzwiese, jede Düne, jeder Busch und jede Bucht waren wie eine Geschichte. Sie erzählten mir von den Träumen, die die Beeren ausgelöst hatten, oder den Vögeln, die dort genistet hatten. Unsichtbar auf meiner Karte war das Abendblau im Westen. Aber es war da gewesen war. Dieses Blau war so schön, dass ich es nie vergessen werde.
Die Kunst der Einfachheit 2024
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