Die Kunst der Einfachheit: Noch einmal neues Land Vorlesen

25. Jul 2025Marie und Dalja
Publikumspreis 2024

Da klingelt jemand an meiner Haustür. Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach 3 am Nachmittag. Das ist bestimmt der Mann, der den Kleiderschrank abholen will. Meinen alten Kleiderschrank, den ich schon mein ganzes Leben lang habe. Ich habe ihn von meiner Großmutter geerbt. Der Schrank ist fast doppelt so alt wie ich. Und das will was heißen, denn ich bin auch schon fast 70 Jahre alt. Gestern musste ich den Schrank ausräumen. Ich habe die Kleider gefaltet und in zwei große Koffer gelegt. Das hat schon ein bisschen wehgetan.

Beim Ausräumen und Kleiderfalten habe ich mich erinnert: Vor 10 Jahren habe ich schon einmal Kleider aus dem Schrank geräumt: die Hosen und Hemden und Jacken von Gerhard. Wir waren fast 40 Jahre lang verheiratet. Er ist an einem Herzinfarkt gestorben. Ganz plötzlich. Ich kam vom Einkaufen heim und da lag er auf dem Sofa und rührte sich nicht mehr.
Bei der Beerdigung haben die Leute gesagt: „Sei froh, dass er nicht leiden musste.“ Ich war aber nicht froh. Ich wollte Gerhard zurückhaben. Aber er kam nicht zurück. Natürlich nicht. Da habe ich seine Kleider in große Säcke gepackt und meine Tochter Miriam hat sie zu einem Laden gebracht, der gebrauchte Kleidung verkauft. Ich habe mich gefreut, dass Gerhards Kleider noch mal jemanden schön machen. Oder warmhalten. Das ist wichtig, denn das Leben kann auch mal ziemlich traurig sein.

Ich gehe zur Haustür und mache sie auf. „Guten Tag!“, sage ich zu dem Mann, der draußen steht. Er ist etwas kleiner als ich und sieht nicht besonders stark aus. Hoffentlich kann er die schweren Holzteile von dem Kleiderschrank die Treppe runtertragen. Ich kann ihm dabei nicht helfen.

„Guten Tag“, sagt der Mann. „Ich heiße Dieter. Ich bin wegen dem Kleiderschrank hier und ich habe meinen Sohn mitgebracht.“ Er dreht sich um und winkt zu einem kleinen Lastwagen, der vor meinem Haus steht. Ein junger Mann steigt aus. Er sieht stark genug aus. Da bin ich ja beruhigt.

Ich führe die beiden Männer die Treppe hinauf. Sie schauen sich aufmerksam um. Das ist mir ein bisschen peinlich, denn es ist sehr unordentlich. Die Regale sind leer und überall stehen Kisten.

„Ziehen Sie aus?“, fragt Dieter.

„Ja“, sage ich.

„Ziehen Sie zu Ihren Kindern?“

„Nein, ich ziehe woanders hin.“

Ich merke, Dieter ist neugierig. Er möchte gerne wissen, wo ich hinziehe. Ich habe aber keine Lust, es ihm zu erklären. Meistens gucken die Leute dann so komisch. „Was, in deinem Alter?“ sagen sie dann. Nur Rosa versteht mich. Ich kenne Rosa schon mein ganzes Leben. Wir sind beste Freundinnen seit dem Sandkasten. Wir haben uns immer alles erzählt. Vor 4 Monaten habe ich ihr gesagt, dass ich wegziehe. Ich hatte Angst, dass sie deshalb traurig ist, denn dann können wir uns nicht mehr so oft sehen. Sie hat sich aber richtig gefreut. „Ich freue mich, weil du glücklich bist“, hat sie gesagt.

Jetzt stehen die beiden Männer vor meinem Kleiderschrank. Er ist aus Mahagoniholz, das ist ein bisschen rötlich. Jedes Jahr habe ich die Türen und die Seitenwände mit Wachs eingerieben, damit sie schön glänzen. Das Sonnenlicht fällt durchs Fenster auf den Schrank und er leuchtet, als wäre er neu.

„Was für ein schöner Schrank!“, sagt Dieter. „Und den wollen Sie wirklich abgeben?“

„Ja“, sage ich. „Im Haus von Thomas ist dafür kein Platz mehr.“

Jetzt ist es also doch heraus. Ich ziehe zu Thomas. Er wohnt auch in einem Haus mit vielen Möbeln. Meine passen da nicht mehr hinein. Wir haben lange überlegt. Soll er zu mir ziehen? Oder ich zu ihm? Oder mieten wir zusammen eine neue Wohnung? Aber schließlich haben wir gemerkt: Sein Haus ist das Beste. Es hat keine Treppen und es liegt nicht auf dem Dorf, sondern am Rand einer Stadt.
Nur zwei Straßen weiter ist eine Bushaltestelle. Von da kann man schnell ins Stadtzentrum fahren und einkaufen oder ein Eis essen. Thomas hat auch ein paar Möbel weggegeben, aber trotzdem passen nicht alle meine Sachen in seine Wohnung. Deshalb muss ich jetzt meinen Kleiderschrank verkaufen.

Dieter und sein Sohn zerlegen den Kleiderschrank. Sie hängen die Türen aus und stellen sie an die Wand. Anschließend nehmen sie den Deckel ab und tragen ihn die Treppe hinunter. Nun stehen die Wände vom Kleiderschrank ohne Deckel und Türen da. Die Stange für meine Kleider hängt noch drin und hält die Wände zusammen. Ich muss schon wieder weinen. Wie dumm, denn eigentlich bin ich gerade richtig glücklich. Weil ich Thomas kennengelernt habe. Und jetzt zu ihm ziehe. Und trotzdem muss ich dauernd weinen, weil ich so viele Sachen weggeben muss. Wie komisch – ich fühle Freude und Trauer, Aufregung und Angst, immer abwechselnd. 

„Das ist so bei einem Abenteuer“, sagt Rosa. „Da fühlt man alles gleichzeitig. Aber am Ende wirst du glücklich.“

Jetzt nehmen Dieter und sein Sohn die Kleiderstange aus dem Schrank und legen sie auf den Boden. Dann heben sie die Wände aus dem Unterteil und tragen alle Teile die Treppe hinunter. Wo der Schrank gestanden hat, leuchtet ein heller Fleck auf dem Holzboden. Ein paar Staubflocken huschen durch die Sonnenstrahlen. „Du bist ganz schön mutig!“, hat Rosa gestern am Telefon gesagt. „Ich hätte Angst, so viele Sachen wegzugeben und nochmal ganz woanders hin zu ziehen.“ Aber ich fühle mich gar nicht mutig. Ich weiß einfach, es ist genau das Richtige. Nochmal aufbrechen und losgehen. Weil wir den letzten Weg zu zweit gehen werden, Thomas und ich.
Dieter und sein Sohn haben jetzt alle Teile vom Kleiderschrank ins Auto gepackt. Dieter kommt noch einmal an die Haustür und gibt mir ein paar Geldscheine für den Schrank.

„Alles Gute!“, sagt er.

„Danke“, sage ich.

Dann setzt sich Dieter in sein Auto und fährt mit meinem Kleiderschrank davon. Ich schaue ihm nach und denke: Ich werde meinen Schrank nie wiedersehen. Hoffentlich passen alle meine Kleider in Thomas Kleiderschrank rein. Es wird ganz schön eng werden in dem kleinen Haus. Aber auch ganz schön schön!

Zwei Tage später steht ein kleiner Umzugswagen vor meiner Tür. Drei starke Männer schleppen Kisten und Koffer aus dem Haus und stapeln sie auf die Ladefläche. In den Koffern sind meine Kleider, in den Kisten sind meine Bücher und andere Sachen, von denen ich mich nicht trennen kann. Die blaue Vase zum Beispiel, die Gerhard und ich bei unserem Urlaub auf der Insel Kreta gekauft haben. Oder das bunte Fensterbild aus Glas, das unsere Tochter Miriam in der Schule gemacht hat. Die Kisten stehen wie eine große Wand ganz vorne im Wagen, dahinter stellen die Männer meinen Lesesessel, zwei Bücherregale und meine Leselampe. Diese Sachen kann ich mitnehmen. Sie kommen in das kleine Zimmer mit dem schrägen Dach. Das war Thomas Arbeitszimmer, aber das braucht er nicht mehr. Er ist ja in Rente und muss keinen Unterricht mehr vorbereiten.
Die Männer binden die Möbel im Lastwagen an, damit sie nicht umfallen. Ich schaue ihnen dabei zu und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Rosa steht neben mir und hat den Arm um meine Schulter gelegt.

„Wie sich das wohl anfühlen wird, meine Sachen in Thomas Arbeitszimmer?“, frage ich Rosa.

„Am Anfang fühlt es sich bestimmt ein bisschen komisch an“, sagt Rosa. „Aber du wirst dich schnell daran gewöhnen. Bald wird es sich wie zu Hause anfühlen.“

„Das glaube ich auch“, sage ich. „Thomas fühlt sich schon wie zu Hause an.“

„Das ist gut!“, sagt Rosa und drückt meine Schulter.

Endlich sind alle Sachen im Umzugswagen und er fährt davon. Rosa und ich gehen wieder ins Haus. Überall liegt Staub und hängen Spinnweben. Wir nehmen Besen und Staubsauger und machen alles sauber. 2 Stunden später kippe ich die letzte Schaufel Dreck in den Mülleimer. Wir stehen im leeren Wohnzimmer und schauen uns an.

„Ich werde dich vermissen“, sagt Rosa.

„Ich dich auch.“ Mir kommen schon wieder die Tränen. Zusammen laden wir Besen und Staubsauger in mein Auto. Rosa gibt mir noch eine Stofftasche mit Käsebroten und Apfelschorle.

„Damit du auf der Fahrt nicht verhungerst“, sagt sie und lacht.

„Danke! Du passt immer so gut auf mich auf.“

„Das muss jetzt Thomas machen“, sagt Rosa und umarmt mich. Ganz fest. Dann lässt sie mich wieder los. „Jetzt fahr schon! Ich besuche dich bald. Ich bin schon ganz gespannt, wie dein neues Zuhause aussieht.“

„Aber nicht zu bald. Erst müssen wir alles aufbauen und einräumen. Es soll gemütlich sein, wenn du kommst. Und bis dahin pass gut auf dich auf!“

Ich setze mich in mein Auto und schaue zum letzten Mal auf mein Haus. Das nicht mehr mein Haus ist. Bald wird hier eine kleine Familie einziehen. Ich glaube, das Haus freut sich schon auf neues Leben. Und auf einmal freue ich mich auch auf mein neues Leben. Ganz doll freue ich mich. Ich fahre los und winke noch einmal kräftig. Rosa winkt zurück. Sogar das Haus sieht so aus, als ob es mir hinterherwinkt. Die Fenster blitzen im Sonnenlicht.

Ich muss nicht lange fahren. Ungefähr 1 Stunde und eine halbe. Im letzten Jahr bin ich hier oft hin und her gefahren. Ich bin froh, dass das vorbei ist. Dass ich jetzt nicht mehr so viel im Auto sitzen muss, damit wir uns sehen können. Jetzt haben wir ganz viel Zeit, Thomas und ich. Erst machen wir uns das Haus gemütlich. Ich stelle mir vor, wie wir zusammen meine Kisten auspacken. Die Bücher sortieren wir in meine Regale ein oder stellen sie zu den Büchern von Thomas dazu. Meine Kleider kommen in seinen Kleiderschrank, der wird dann unser Kleiderschrank. Meine Bilder hängen wir irgendwo auf, vielleicht nicht alle, aber ein paar bestimmt.

Bestimmt streiten wir uns auch mal. Zum Beispiel guckt Thomas abends gerne Fernsehen, weil es da spannende Dokus gibt, aber ich lese lieber ein Buch. Dann kann ich nämlich besser schlafen. Wir haben uns auch noch nicht geeinigt, ob die Butter im Kühlschrank stehen soll oder nicht. Ich hab sie immer draußen stehen, dann ist sie gleich schön weich, wenn ich mir ein Brot schmieren will. Thomas mag das nicht, er hat Angst, dass die Butter dann schlecht wird. Wer weiß, was für komische Gewohnheiten wir noch an uns entdecken. Hoffentlich streiten wir uns nicht so oft.

Auf jeden Fall wir machen es uns schön! Bei gutem Wetter gehen wir wandern. Thomas kennt viele spannende Wege in einem Wald, der Harz heißt. Er sagt, der Wald ist sehr groß, und er freut sich darauf, mir tolle Orte zu zeigen: hohe Felsen, von denen man weit ins Land gucken kann. Oder tiefe Schluchten mit kleinen Brücken über einem plätschernden Bach. Wenn wir im Haus mit dem Einräumen fertig sind, machen wir Urlaub an der Ostsee. Das haben wir uns versprochen. Im nächsten Sommer machen wir den Garten schön. Der ist ein bisschen verwildert, denn Thomas kann sich nicht mehr so gut bücken. Erst machen wir das Unkraut weg und schneiden die Büsche. In die freien Stellen pflanze ich Kräuter und Erdbeeren und vielleicht noch einen Johannisbeerstrauch.

Aber am meisten freue ich mich darauf, morgens neben Thomas aufzuwachen. Dann frühstücken wir gemütlich und schauen, was der Tag so bringt. Ich hoffe, nichts Aufregendes. Das letzte Jahr war aufregend genug. Eigentlich bin ich zu alt für so aufregende Sachen, aber was will man machen? Die Liebe fällt nun mal hin, wo sie will. Und dann muss man aufbrechen. Solange man noch kann.

Da kommt schon das Ortsschild. Hildesheim. Hier wird mein neues Zuhause sein. Mein neues Heim. Dabei heiße ich gar nicht Hilde. Ich fahre durch das Stadtzentrum und einen Berg hinauf. Vor einem kleinen Haus mit Feenkraut im Vorgarten halte ich an. Thomas macht schon die Haustür auf. Er hat wohl hinter dem Fenster auf mich gewartet. Ich steige aus dem Auto und wir laufen aufeinander zu und umarmen uns. Ganz fest. Jetzt fängt das Abenteuer erst richtig an.

Die Kunst der Einfachheit 2024 

Gerade hast du einen der 10 besten Texte des Wettbewerbs gelesen. Alle 10 Texte kannst du hier auf dem Blog lesen. Bis zum 1. August veröffentlichen wir jeden Mittwoch und jeden Freitag wir einen Text.

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Die Abstimmung endet am 8. August 2025.

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