
„Die Stille“, sagen die Alten, „die Stille ist so anders. So grau. So verloren. Anders als auf der Erde.“ Ich mag die Stille hier. Ich kenne nichts anderes. Ich bin hier geboren. Ich bin ein Mond-Kind.
Ich kenne die Erde als Ball am Himmel. Und aus Geschichten. Aus Geschichten der Alten. Sie sind zu unserer Geschichte geworden. Wir sind die Mond-Leute. Wir sprechen wenig. Wir leben ein einfaches Leben: Wir schlafen. Wir essen. Wir arbeiten. Wir beten. Wir beten zur Erde. Die Erde ist unsere Göttin. Unsere Heimat. Das sagen die Alten.
Für uns Mond-Kinder ist der Mond die Heimat. Ich liebe den Mond. Seine Klarheit. Seine Stille. Sein Grau. Ich liebe, wie leicht ich bin. Die großen Sprünge, die ich machen kann. Unser Dorf. Einmal war ich auf dem Mars. Auch da leben Menschen. Auf der Erde leben keine Menschen mehr.
Man sagt, es fing mit einem Krieg an. Dann noch einer. Ein Atomkraftwerk flog in die Luft. Dann noch eins. Das Wasser wurde knapp. Es gab noch mehr Krieg. Einige Menschen flohen auf den Mond. Das sind unsere Omas und Opas. Die Alten. Manche Menschen flohen auf den Mars.
Auf der Erde gibt es keine Menschen mehr. Glauben wir. Es gibt keinen Kontakt mehr. Die Alten haben großes Heimweh. Nach der Erde. Nach dem Grün der Wälder. Nach dem Blau des Himmels. Nach dem Duft der Blumen. Nach den Städten. Nach Kunst. Nach Musik. Sogar nach Straßen-Lärm. Die Alten vermissen alles. Sie vermissen ihr Leben.
Dann werden ein paar Mond-Kinder ausgewählt für eine Mission zur Erde. Ich bin dabei. Es gibt nur unser altes Raumschiff. Unser Flucht-Raumschiff. Und noch zwei Raumschiffe, die zum Mars geflogen sind.
Wir sollen Leben suchen. Auf der Erde. Es ist ein großes Risiko. Aber vielleicht auch ein großes Glück. Niemand weiß es. Auch wir Mond-Kinder nicht.
Wir müssen trainieren. Viel trainieren. Denn wir sind schwach. Das sagen die Alten. Auf der Erde braucht man mehr Kraft. Weil dort mehr Schwerkraft herrscht. Weil die Erde so viel größer ist. Die Erde hält auch den Mond fest. Ohne die Erde würden wir durch das Weltall rasen. So aber kreisen wir um die Erde. Deshalb ist sie unsere Göttin. Ich werde unsere Göttin berühren.
Aber das Training ist hart. Wir brauchen mehr Muskeln. Vor allem an den Beinen. Wir bekommen Gewichte an die Beine. Damit sollen wir laufen. Das ist nicht einfach. Denn wir tragen Raumanzüge und unsere Helme. Wir müssen draußen trainieren. Wo keine Luft ist. Drinnen ist kein Platz dafür.
Unser Dorf steckt unter einer Hülle. Über Apparate produzieren wir Sauerstoff zum Atmen. Den gibt es auf dem Mond nicht. Aus dem Sonnenlicht gewinnen wir Energie. Wir haben großes Glück: Wir haben auf dem Mond Wasser gefunden. Gerade genug Wasser für uns Mond-Menschen. Aber wir müssen alles immer im Kreislauf nutzen. Die Alten sagen, auf der Erde war das anders. Dort gab es so viel Wasser. Und die Temperaturen waren viel angenehmer.
Hier auf dem Mond ist es entweder sehr kalt. Oder sehr heiß. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich laufe weiter. Die Sonne am schwarzen Himmel blendet. Ich schwitze. Ich keuche. Werde ich mich auf der Erde immer so schwer fühlen?
Neben mir keucht auch Paris. Sie ist meine beste Freundin. Sie ist auch ausgewählt. Als Reisende. „Berlin!“, ruft sie mir zu, „Ich kann nicht mehr!“ „Nur noch eine Runde!“, keuche ich zurück. Meine Beine zittern. „Denk an die Bäume und an Paris.“
Wir Mond-Kinder sind nach Städten auf der Erde benannt. Ich heiße Berlin. Meine Freundin heißt Paris. Sie will die Bäume sehen. Und wir wollen „unsere“ Städte besuchen. Berlin und Paris. Wenn wir auf der Erde sind. Wenn noch etwas davon zu sehen ist.
Hier auf dem Mond haben wir keine Städte. Nur unser Dorf. Wir haben Pflanzen. Kartoffeln, Bohnen und Mais. Aber wir haben keine Bäume. Wir haben auch Hühner. Jede Familie hat einen kleinen Schlafbereich. Alles ist aus Mondsteinen gebaut. Die backen wir aus Mondstaub. Der Staub ist grau. Die Steine sind schwarz. Wir leben in einer grau-schwarzen Welt.
Paris und ich sind zurück vom Training. Jetzt haben wir Unterricht. Zusammen mit den anderen Reisenden. Wir lernen die Rakete zu steuern. Wir lernen Medizin. Wir lernen alles über die Erde. Wir lernen Sprachen. Vielleicht leben ja doch noch Menschen auf der Erde? Wir lernen, uns zu verteidigen. Unsere Mission ist gefährlich. Wir wissen nicht, was kommt.
Aber wir wollen wissen, was auf der Erde ist. Ob man dort wieder leben kann. Ob wir Menschen wieder dorthin zurück können.
Paris glaubt fest daran, dass unsere Rakete funktioniert. Sie kann alles reparieren. Ich lerne alles über Pflanzen und Tiere. Was man essen kann. Und was nicht.
Langsam bekomme ich Angst. Ich sage zu Paris: „Was, wenn wir nie zurück können?“
Sie antwortet: „Vielleicht wollen wir gar nicht mehr zurück?“
Wir blicken beide hoch zur Erde.
Dann starre ich sie an. „Das meinst Du nicht ernst, oder? Was ist mit unseren Familien?“
Paris lächelt: „Die holen wir dann auf die Erde. Und denk an das Meer!“
Dagegen kann ich nichts sagen. Das Meer stelle ich mir so schön vor!
Die Zeit vergeht. Wir werden immer kräftiger. Unsere Eltern werden immer stiller. Die Erde scheint heller zu leuchten. Ein schlimmer Mondsturm beschädigt unser Dorf. Das passiert immer wieder. Das Leben hier wird unsicher. Unsere Mission zur Erde muss ein Erfolg werden.
Jetzt ist Starttag. Wir sind bereit. Wir umarmen unsere Familien. Ich stecke einen kleinen Mondstein ein. In unseren Raumanzügen klettern wir in die Rakete. Die Rakete heißt „Luna 1“. Paris führt letzte Tests durch. Ich höre meine Mutter über Funk weinen. Wir sind alle sehr traurig und sehr aufgeregt. Aber wir haben uns!
Die Rakete bebt. Mondstaub wirbelt auf. Wir sind in Grau getaucht. Jetzt brüllt die Rakete. Ich taste nach Paris‘ Hand. Ich sehe ihre Augen durch den Helm strahlen. Dann schließe ich die Augen. Der Druck vom Start ist unglaublich. Wir nehmen Kurs auf die Erde.
Nach drei Tagen Schwerelosigkeit ist es soweit. Die Erde ist immer größer geworden. Die Landung steht bevor. Paris ist ernst. Unsere Landeroutine ist berechnet. Aber unser Wissen von der Erde ist alt. Wir wissen nicht, ob sie sich verändert hat. Durch die Kriege. Durch den Klimawandel. Gleich werden wir es wissen.
Plötzlich bricht Hektik aus. Rote Lichter blinken. Es piepst laut.
„Alle in die Raumanzüge! Alle auf ihre Plätze! Sofort! Es wird jetzt heiß!“, ruft Paris.
Es wird heißer und heißer. Draußen sehen wir nur noch rotes Glühen. Wir werden in der Rakete durchgeschüttelt. Ich kann nicht mehr atmen… Dann verliere ich das Bewusstsein.
Als ich meine Augen öffne, muss ich sie sofort wieder schließen. Es ist so hell! Um mich herum höre ich Stöhnen. Ganz vorsichtig öffne ich noch einmal die Augen. Nur einen kleinen Schlitz. Über mir ist das schönste Blau. So schön, dass mir die Tränen kommen. Ich versuche, mich aufzurichten. Aber ich kann mich nicht bewegen. Erschrocken schreie ich auf.
„Es ist alles gut“, höre ich Paris‘ Stimme. „Du musst dich erst an die Schwerkraft gewöhnen. Denk an unser Training!“
Ich kann Paris nicht sehen. Aber ich höre auf sie. Ich atme tief ein. Süße, volle Luft. Ich spanne meine Muskeln an. So stark es geht. So kann ich einen Arm heben. Jemand greift nach meiner Hand. Und zieht. Bis ich sitze.
Ich kann kaum etwas sehen. Mein Kopf schmerzt. Mein Mund fühlt sich an wie Watte. Aber das Atmen ist herrlich! So leicht! Wie Seide ist die Luft. Lange sitze ich einfach nur da. Und atme. Dann kann ich mich umsehen.
Um mich herum liegen die anderen Mond-Kinder. Hinter mir steht die Rakete. Unsere Landung hat geklappt! Jemand hat mich rausgezogen. Ich liege auf etwas Grünem, Stacheligem. Das muss Gras sein. Vor uns stehen große, grüne Gebilde. Bäume!
„Paris‘ Bäume!“, rufe ich. Über allem der blaue Himmel. Es ist wunderschön.
Paris hat es geschafft aufzustehen. Sie bewegt sich ganz langsam. Mit viel Mühe. Aber sie steht. Sie prüft die Luft mit einem Gerät. Die Luft ist gut. Und es gibt keine schädliche Strahlung. Wir sind erst einmal sicher.
„Wir schlagen hier unser Lager auf!“, ruft Paris.
Wir können uns alle kaum bewegen. Wir fühlen uns so schwer. Aber wir arbeiten. Ganz langsam. Tag für Tag. Wir finden einen Bach. Das Wasser ist gut. Ich untersuche die Pflanzen. Wir bauen Zelte auf. Wir sichern unsere Rakete.
Wir bewundern die Farben. Es ist so schön. Viel schöner, als wir uns es vorgestellt haben. Und auch lauter. Der Wind rauscht in den Bäumen. Es gibt Vögel. Sie zwitschern. Es gibt Bienen. Sie summen. Der Bach plätschert. Wir haben diese Geräusche vorher noch nie gehört.
Wir lachen. Wir sind glücklich. Wir weinen. Wir sind erleichtert. Manche haben Heimweh. Sie wünschen sich, ihre Familien könnten auch hier sein. Wir haben Angst. Vielleicht gibt es doch Menschen hier? Werden sie denken, dass wir Feinde sind? Wir senden Berichte nach Hause. Nachts schauen wir zum Mond hoch. Und können nicht glauben, dass er so weit weg ist.
An einem Morgen finde ich Paris unter einem Baum. Sie hält mir eine rote Frucht hin. „Schau! Probier mal!“, sagt sie.
Das ist ein Apfel. Wir kennen nur Bilder von Äpfeln. Auf dem Mond wachsen ja keine Bäume. Vorsichtig beiße ich hinein. Und spucke sofort wieder aus.
Paris lacht laut: „Süß, oder?“
Ich beiße nochmal ein Stück ab. Kaue langsam.
Ein ganz neuer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus.
Ich lasse mich ins Gras fallen. Und will einfach immer weiter essen.
Paris legt sich neben mich.
„Wir müssen los. Menschen suchen.“, sagt sie.
Ich weiß. Sie hat recht. Plötzlich fühle ich mich einsam. Ich taste nach dem Mondstein in meiner Tasche. Wahrscheinlich sind wir ganz allein. Ein paar Mond-Kinder auf einem riesigen Planeten.
Wir haben unsere Aufgabe: Wir bleiben. Und wir untersuchen, ob die anderen Mond-Menschen auch kommen können. Hier auf die Erde. Ein neues Leben beginnen. Wieder einmal. Wenn die Gefahr zu groß ist, fliegen wir zurück. Aber dafür brauchen wir Treibstoff. Wir haben so viel zu tun. Ich fühle mich klein. Aber dann schaue ich Paris an. Und die anderen Mond-Kinder beim Lager.
Mühsam stehe ich auf. Die Schwerkraft ist immer noch eine Last. Aber es geht von Tag zu Tag besser. „Morgen brechen wir auf.“, rufe ich.
„Jaaaa!“, schreien alle und recken ihre Arme nach oben.
Wir tanzen. Abends beten wir für einen guten Start. Wir beten immer noch zur Erde. Sie ist immer noch unsere Göttin. Sie hat uns gut aufgenommen.
Am nächsten Morgen laufen wir los. Wir glauben, dass wir in Deutschland sind. Oder dort, wo früher Deutschland war. Wir laufen durch Wiesen. Durch Wälder. Wir finden alte Straßen. Denen folgen wir. Immer weiter. Wir finden verlassene Städte. Autos am Straßenrand. Leere Züge auf bewachsenen Gleisen. Wochenlang. Alles ist menschenleer.
Bis wir auf einem Berg stehen. Wir blicken in ein weites Tal. Wir sehen verfallene Häuser. Wir sehen Brücken. Wir sehen mehr Straßen. Alles ist von Pflanzen überwuchert.
Wir stehen. Wir starren. Sind wirklich keine Menschen mehr da? Wir schlagen unser Lager hier oben auf. Paris und ich sollen ins Tal gehen. Die anderen bleiben erst einmal oben.
Langsam klettern wir den Berg hinunter, Richtung Stadt. Mond-Kinder auf der Suche nach Erd-Kindern. Plötzlich hören wir lautes Bellen. Viele Hunde laufen auf uns zu. Von allen Seiten. Sie sehen gefährlich aus. Sie knurren. Sie bilden einen Kreis um uns. Und bellen wieder. Paris und ich haben Gewehre. Aber noch wollen wir sie nicht benutzen. Wir stehen Rücken an Rücken. Und warten.
Auf einmal hören wir eine Stimme. Sie ruft etwas, das wir nicht verstehen. Und wir sehen eine Gestalt auf uns zulaufen. Ein Mensch! Es ist ein Mädchen. „Oh Gott!“, sagt Paris nur. Die Hunde werden leise. Sie setzen sich. Das Mädchen ist jetzt ganz nah. Es ist etwa so alt wie Paris und ich. Wir stehen ganz still.
Das Mädchen bleibt stehen. Es starrt uns an. Es sieht schmutzig aus. Und ein bisschen wild. Es hebt ein Messer. Und hält es auf uns. Auch wir heben unsere Waffen. So stehen wir lange. Ich höre Paris neben mir schniefen. Auch mir laufen die Tränen über das Gesicht. Vor uns steht ein Erden-Mensch! Wir sind doch nicht allein! Jetzt sehe ich, dass auch das Mädchen weint.
Paris und ich lassen langsam unsere Waffen sinken. Wir legen sie vor uns auf den Boden. Wir zeigen unsere leeren Hände. Das Mädchen vor uns geht einen Schritt zurück. Es sagt etwas. In einer Sprache, die wir nicht kennen. Wir sagen: „Hallo, wir sind Freunde!“ Das Mädchen zuckt zusammen. Es dreht sich um. Es läuft weg. Die Hunde hinterher.
Wieder ist alles still. Paris und ich stehen da. Wir atmen kaum. Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Ich fühle den Mondstein in meiner Tasche. Ich will den anderen Bescheid geben. Wir sind nicht allein!
Da sehen wir das Mädchen. Es kommt zurück. Und es bringt jemanden mit. Sie kommen näher. Ganz vorsichtig. Wir sehen, dass der Andere ein Junge ist. Auch er sieht schmutzig aus. Und hungrig. Aber er lächelt. Beide bleiben vor uns stehen. „Hallo“, sagt er.
Mir wird ganz warm. Wir werden auf der Erde leben. Wir werden noch andere Menschen finden. Unsere Familien werden kommen. Den Mond verlassen. Wir werden zu Erden-Menschen. Auch wenn der Mond uns fehlen wird. Wir lernen aus den Fehlern der Alten. Vielleicht.
Vielleicht.
Die Kunst der Einfachheit 2024
Gerade hast du einen der 10 besten Texte des Wettbewerbs gelesen. Alle 10 Texte kannst du hier auf dem Blog lesen. Bis zum 1. August veröffentlichen wir jeden Mittwoch und jeden Freitag wir einen Text.
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Die Abstimmung endet am 8. August 2025.