
Es war einmal ein kleiner Junge.
Der hatte was mit seiner Zunge.
Das Sprechen fiel ihm deshalb schwer.
Drum sprach er lieber gar nicht mehr.
Er war echt schlau und gar nicht dumm.
Und trotzdem blieb er einfach stumm.
Lieber innerlich zerbrechen,
als irgendwas falsch auszusprechen!
Als er dann in die Schule kam,
da fand man das recht wundersam.
Ein Kind, das gar nichts sagen will?
Den ganzen Tag nur ruhig und still?
Sie hielten ihn für nicht normal,
und sagten ständig: „Sag doch mal!“
Auch sonst waren sie oft gemein.
Und er blieb meistens ganz allein.
So konnte er es kaum erwarten,
in die Ferien zu starten.
Nur weg von hier, schnell weggerannt!
Und mit den Eltern raus aufs Land.
Das Reise-Ziel war dieses Jahr
ein kleiner Ort, ganz unscheinbar.
Dort stand ein Haus für sie allein.
Gebaut aus altem dicken Stein.
Das Haus war viel zu groß für drei.
Es waren 14 Zimmer frei!
„Such dir eins aus“, sagte Mama.
Er dachte nur: „Juhuuu! Hurra!“
Er lief gleich los, ganz leicht und munter.
Die Treppen rauf und wieder runter.
Er ging durch Flure und um Ecken,
um alle Zimmer zu entdecken.
Der kleine Raum oben im Westen
gefiel ihm dann schließlich am besten.
Man konnte dort am Fenster stehen
und ganz weit in die Ferne sehen.
Er schaute ewig raus, doch dann
fing es bereits zu dämmern an.
Zwei Stunden hatte er geträumt
und noch gar nichts eingeräumt.
Jetzt los, die Sachen in den Schrank!
Waren ja nicht viele, Gott sei Dank.
Der Schrank war ziemlich groß und leer
und doch gab’s da noch etwas mehr …
Man entdeckte es nicht gleich:
ganz rechts im hinteren Bereich,
da gab es eine kleine Tür.
Er wusste nur noch nicht, wofür.
Ihm fiel dazu nur eines ein:
„Wie aufregend! Da geh ich rein!“
Doch jetzt gab’s erst mal Abend-Essen,
das hatte er fast ganz vergessen.
Dann später mitten in der Nacht,
war er ganz leise aufgewacht.
Er zog sich seine Puschen an
und schlich sich an die Schrank-Tür ran.
Jetzt nur nicht allzu viel bewegen!
Und auch nicht lange überlegen!
Und mit ‘ner Lampe in der Hand
verschwand er schließlich in der Wand.
Er kam in einen schmalen Gang,
und ging ihn vorsichtig entlang.
Als dann der Gang zu Ende war,
da sah er was, kaum vorstellbar:
Ein fürchterliches Ungeheuer!
Es tanzte um ein großes Feuer!
Es sah ihm direkt ins Gesicht!
Und … Nein! So war’s natürlich nicht!
In Wirklichkeit führte der Weg
zu einer großen Bibliothek.
Das ist ein Ort, an dem man liest
und ganz entspannt sein Buch genießt.
Er schlich hinein und staunte sehr:
Wo kamen all die Bücher her?
Es mussten über tausend sein,
im vordersten Regal allein.
Er trat an das Regal heran
und fing sofort zu blättern an
in einem Buch, ganz alt und schwer.
Das allerschönste Buch bisher.
Romane gab es darin keine.
Stattdessen waren viele kleine
Reime sehr hübsch aufgeschrieben.
Wer Bücher mag, musste das lieben.
Er nahm das Buch und ging entspannt
zu einem Sessel an der Wand.
Setzte sich hin, begann zu lesen,
als wär es ganz normal gewesen.
Und während er da saß und las
und alles rund um sich vergaß,
da fing er einfach irgendwann
die Reime aufzusagen an.
Zuerst nur sachte und ganz leise.
Doch bald schon auf recht laute Weise.
Nach jahrelangem Schweigen endlich
sprach er wieder, ganz verständlich!
So hat er die komplette Nacht
mit seinem neuen Buch verbracht.
Zurück ins Bett ging er erst dann
am frühen Morgen irgendwann.
Von diesem Raum voller Magie
erfuhren seine Eltern nie.
Der Zauber war für ihn allein.
Es sollte sein Geheimnis sein.
Drum war er tagsüber wie immer.
Doch nachts saß er im Bücher-Zimmer.
Hat dort gelesen und gesprochen.
So lief es all die Ferien-Wochen.
Doch wie’s mit Ferien nun mal ist:
Sie gehen zu Ende. Schöner Mist!
War grad noch alles wunderbar,
ist schwupps: der Alltag wieder da.
Man sieht die alten Leute wieder.
Sie schauen dich an, machen dich nieder.
Lachen dich aus und reißen Witze.
Und finden nur sich selber spitze.
Nur weil du anders bist als sie.
Ist das nicht jeder irgendwie?
Doch das wollen sie nicht verstehen.
Da hilft nur: aus dem Wege gehen.
Doch sei dir sicher, mit der Zeit
da kommt deine Gelegenheit!
Du wirst sie sehen, wirst sie erfassen
und alle anderen staunen lassen!
Mach’s einfach unserem Jungen nach.
Du weißt noch: der, der niemals sprach.
Er war seit seiner Ferien-Reise
wie vorher wieder still und leise.
In seiner Schule irgendwann
stand bald ‘ne Klassen-Feier an.
Er wollte lieber nicht hingehen.
Das kann man ja wohl auch verstehen.
Das einzig Gute war allein:
Die Feier sollte draußen sein.
Da kann man hinter Busch und Hecken
sich wenigstens ganz gut verstecken.
Das Fest ging erst am Abend los.
Mit Lager-Feuer, riesengroß.
Er mochte das Geknister sehr
und den Geruch sogar noch mehr.
Und während alle wild rumrannten
und ihre Stock-Brote verbrannten,
da schaute er ins Flammen-Meer
und sah den Funken hinterher.
Niemand nahm ihn richtig wahr.
Als wäre er fast unsichtbar.
Da fiel im warmen Feuer-Schein
ihm eins seiner Gedichte ein.
Und ohne lange nachzudenken,
ohne die Zunge zu verrenken,
ohne zu zögern oder zu fragen,
fing er an, es aufzusagen.
Ganz still und leise, nur für sich.
Ein jedes Wort ganz ordentlich.
Es floss nur so aus ihm heraus,
wie damals in dem großen Haus.
Die erste, die ihn reden hörte,
das war die rothaarige Dörte.
Am Feuer saß auch sie alleine
und wärmte sich die kalten Beine.
Sie staunte kurz, doch gleich darauf
stand sie mit einem Lächeln auf,
setzte sich zu ihm ganz in Ruh
und hörte ihm aufmerksam zu.
Am Rande stand auch recht verloren
der Neue mit den großen Ohren.
Es war noch nicht mal allen klar,
aus welchem Land er eigentlich war.
Um alle Blicke zu vermeiden,
ging er nur langsam zu den beiden.
Am Ende war’s ein letzter Schritt,
und kurz danach waren sie zu dritt.
Mit roten Wangen im Gesicht
lauschten sie leise dem Gedicht,
von dem der Junge gerade sprach.
Und auch noch dem Gedicht danach.
Es ging um einen Zauber-Besen,
um Burgen und um Fabel-Wesen.
Es ging um Reisen übers Meer,
um Abschied und um Wiederkehr.
Natürlich kamen später dann
die anderen auch ans Feuer ran.
Um einen doofen Spruch zu machen
und die drei Typen auszulachen.
Doch als sie plötzlich ganz vom Nahen
den stillen Jungen reden sahen,
da war der Lärm ganz schnell vorbei.
Es gab nicht eine Hänselei!
Alle gemeinsam rund ums Feuer
ließen sich ein aufs Abenteuer.
Sie sagten nichts, nicht mal die Frechen.
Sie ließen nur den Jungen sprechen.
Und dem war jeder Mensch willkommen.
Er hat sie alle mitgenommen
in seine Welt der Poesie.
Vielleicht vergessen sie das nie?
Er hat erst kurz vor Mitternacht
den Mund dann wieder zugemacht.
Es gab ‘nen riesigen Applaus.
Und dann ging auch das Feuer aus.
Und die Moral von der Geschicht?
Lies doch mal öfter ein Gedicht!
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