Die Kunst der Einfachheit: Fast ein Abenteuer Vorlesen

11. Jul 2025Marie und Dalja
Publikumspreis 2024

„Jonah?“, rief sie aus der Küche.

„Ja?“, rief er aus dem Wohnzimmer.

„Kannst du bitte den Müll runterbringen?“

„Nein!“

„Nein? Warum nicht?“

„Zu gefährlich!“

„Was ist daran gefährlich, den Müll runterzubringen?“

„Zum Beispiel: 27 Katzen des Nachbarn lauern vor der Tür. Die wollen mich fressen.“

„Oh …, aber du bist keine Maus.“

„Das wissen die doch nicht. Und sie können tagsüber nur schlecht gucken.“

„Sag ihnen, dass du keine Maus bist. Katzen sind intelligente Tiere. Sie verstehen das.“

„Kann sein, aber was ist mit den Treppenstufen? Die sind viel zu tief für mich.“

„Wie tief?“

„Jede Stufe war gestern schon drei Meter tief. Aber inzwischen sind es bestimmt mehr. Die wachsen ja wie verrückt.“

„Nimm eine Leiter mit. So kannst du von Stufe zu Stufe auf der Leiter runtersteigen.“

„OK, gute Idee, nur: Wenn ich im ersten Stock ankomm, muss ich die Richtung wechseln. Klappt das nicht, dann lauf ich vor die Wand. Da krieg ich Nasenbluten.“

„Nein, das schaffst du schon. Konzentrier dich!“

„Wie soll man sich konzentrieren, wenn ein Krokodil im Flur liegt?“

„Ach, das ist doch harmlos. Wünsch ihm einen guten Tag und es lässt dich in Ruhe.“

„Also gut. Ich sag, ich bin keine Maus. Ich nehm die Leiter, und ich wünsch dem Krokodil einen guten Tag. Dann bin ich im ersten Stock. Doch du weißt selbst: Diese Stufen vom ersten Stock runter sind zwar flach, aber abgeschliffen. Die Kinder mussten ja dort den ganzen Winter Schlitten fahren, weil kein Schnee lag. Ich fall bestimmt hin und brech mir alle Knochen.“

„Dann nutz die Leiter als Schlitten und fahr die Stufen runter.“

„Aber ich kann nicht bremsen. Ich knall vor die Tür und bums mit dem Kopf dagegen.“

„Nimm einen Gürtel mit. Schnall dich an!“

„Wieder eine gute Idee, aber: Was ist mit dem Räuber, der immer vor unserem Haus steht? Der hat eine Pistole.”

„Das ist doch einfach. Du schlägst mit dem Müllbeutel die Waffe aus seiner Hand, mit der Leiter stößt du ihn ins Gebüsch. Er findet da nie wieder raus. Ein Räuber, der den ganzen Tag vor einer Tür steht, muss dumm sein.“

„So weit, so gut. Bleibt ein letztes Problem.“

„Was noch? Du öffnest die Mülltonne, schmeißt den Müll rein und schließt die Tonne. Wo ist das Problem?“

„Was ist, wenn ich dabei in die Tonne stürze? Und die Klappe fällt zu und ich bin eingesperrt?“

„Uh, ja dann … ja dann kommt Plan B.“

„Plan B?“

„Ja. Plan A: Alles läuft wie gewünscht. Plan B folgt, wenn etwas schiefgeht. Falls du in fünfzehn Minuten nicht wieder hier bist, komm ich runter. Dann befrei ich dich aus der Tonne.“

„Plan B hört sich gut an. Plan Z ist wahrscheinlich für den Fall, dass die Erde in die Sonne fällt.“

„Genau.“

„Bevor ich den Müll eingeworfen hab oder nachdem ich den Müll eingeworfen hab?“

„Plan Z gilt natürlich, bevor du den Müll losgeworden bist. Danach ist doch egal.“

„Das find ich nicht sehr beruhigend.“

„Nun komm, hol dir den Müllbeutel – und die Leiter, und vergiss den Gürtel nicht.“

Jonah öffnete behutsam die Wohnungstür. Drei Katzen stürmten trotzdem einige Stufen hinauf, blieben jedoch gleich wieder stehen. Sie beobachteten ihn zusammen mit den anderen Katzen. Er schaute in die Runde und sagte: „Ich bin keine Maus.“

Die Katzen starrten ihn weiter an. Er versuchte es mit mehr Einzelheiten: „Ich hab kein Fell. Ich hab keine Knopfaugen. Und ich hab keine vier Beinchen und kein Schwänzchen hinten.“

Die Katzen warteten auf mehr, doch mehr kam nicht. Jene auf der Treppe entspannten sich schließlich. Einige leckten ihr Fell, eine kam sogar näher. Sie schnupperte an ihm, sie schnupperte am Müllbeutel und wandte sich ab. Damit war allen klar: keine Maus.

Jonah bahnte sich vorsichtig seinen Weg zur Treppe. Er schaute hinab in die Tiefe. Die Stufen waren sehr schmal. Er würde zur Seite von der Leiter steigen müssen.
„Wer sich das ausgedacht hat, dem sollen aus der Nase Gänseblümchen wachsen“, brummelte er leise.

Plötzlich juckte es in seiner Nase. Doch er unterdrückte das Niesen. Er ließ die Leiter langsam, ganz langsam hinab. Kein metallischer Krach sollte die Katzen erschrecken.

Ein Problem war noch nicht gelöst: Wohin mit dem Müllbeutel, wenn er hinabstieg? Jonah dachte nach. Schließlich hatte er eine Idee. Er zog den Gürtel durch die Schlaufen des Beutels und schloss die Schnalle. Dann streifte er den Gürtel von rechts über den Kopf auf die linke Schulterseite. Er trug den Müllbeutel als Tasche und hatte die Hände frei.

Jonah setzte bedächtig einen Fuß auf die erste Sprosse und kletterte Schritt für Schritt die Leiter hinunter. Er schaute immer wieder nach unten. Denn er wollte auf keinen Fall die nächste Treppenstufe verpassen und ins Leere treten. Endlich kam er an und schnaufte erleichtert.

Und so ging es Stufe um Stufe: Er ließ die Leiter hinab und betrat vorsichtig die Sprossen. Immer hatte er die nächste Treppenstufe im Blick. Er schaute nur einmal hoch. Die Katzen waren oben aufgereiht und beobachteten ihn. „Keine Bange, ich fall nicht“, sagte Jonah leise.

Als er die Leiter hinabließ von der letzten Stufe zum Flur des ersten Stocks, schaute er nach dem Krokodil. Es lag in einem Kinderplanschbecken vor dem Flurfenster im Sonnenschein. Anscheinend schlief es.
Jonah setzte die Füße leise wie ein Ausbrecher auf die Sprossen, guckte immer wieder zum Krokodil. Es blieb unbewegt. Schließlich kam er auf dem Flurboden an. Das Krokodil öffnete ein Auge.

„Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Tag, mein Herr“, sagte Jonah freundlich. 

Die Antwort war ein Schwanzschlag ins Wasser. 

‚Ich schätze, das heißt Ja‘, dachte Jonah. 

Das Krokodil schloss sein Auge wieder.

„Dann wünsche ich noch einen guten Tag“, fügte er hinzu. 

Diesmal ließ das Krokodil die Augen geschlossen. Es schlug zweimal heftig mit dem Schwanz. 

Jonah bekam ein paar Wasserspritzer ab. „Ist ja gut“, flüsterte er, „Ich geh ja schon.“

Er platzierte die Leiter längs auf dem Boden, sodass sie über die erste Treppenstufe hinausragte. Dann löste er die Gürtelschnalle und stellte den Müllbeutel ans Geländer. Er setzte sich auf die Leiter, gurtete sich mit dem Gürtel an.

Jonah schob die Leiter langsam nach vorn. Das machte trotz aller Vorsicht ein hässliches Geräusch. Er schaute zurück zum Krokodil. Es starrte ihn an. Jonah schob sich eilig vor und ab ging’s.

Die Fahrt war ruckelig, laut, aber kurz. Die Leiter prallte gegen die Tür, doch der Gürtel hielt ihn. Da fiel ihm ein: „Der Müll!“ Er befreite sich hastig, sah hinauf. Der Müllbeutel stand am Geländer.

„Hallo, Herr Kroko!“, rief Jonah. „Könnten Sie ...“ 

Schon flog der Müllbeutel in hohem Bogen nach unten. Er fing ihn auf und schaute wieder hoch. Das Krokodil war nicht zu sehen.

„Danke“, sagte er laut in den hallenden Flur. Er hörte ein Wasserplatschen als Antwort und lächelte. ‚Das Krokodil riecht ein bisschen muffig‘, dachte er, ‚aber eigentlich ist es ganz OK.‘

Jonah plante sein weiteres Vorgehen. Zuerst legte er den Gürtel um die Schultern, dann öffnete er die Tür ein wenig. Er nahm den Müllbeutel in die rechte Hand und klemmte die Leiter unter den linken Arm. Er atmete einmal tief durch. Schließlich schob er mit Hilfe der Leiter die Tür ganz auf.

Er war kaum hinausgetreten, da sprang ein großer Mann in seinen Weg. Der richtete eine Pistole auf ihn und rief mit hoher Stimme: „Geld oder Leben!“

„Was soll das heißen: Geld oder Leben?“, fragte Jonah.

„Das heißt: Entweder Sie geben mir Geld oder ich beende Ihr Leben“, erklärte der große Mann.

„Tut mir leid“, sagte Jonah, „Plan A muss geändert werden.“

„Quatschen Sie nicht, sonst knallt’s“, rief der große Mann.

„Nein“, erwiderte Jonah ruhig. „Diese Pistole knallt nicht. Das ist eine Wasserpistole. Ganz altes Modell, hatte ich als Kind. Man konnte sie irgendwann nicht mehr kaufen. Sie sah einer echten Waffe zu ähnlich. Wundert mich, dass es die noch gibt.“

Der große Mann starrte ihn an, schaute auf seine Pistole. Er öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Plötzlich ging er leicht in die Knie, hob ruckartig die linke Hand. Er kreischte: „Ich kann Karate!“
Nach Art der Karate-Kampftechnik drohte er mit einem Schlag der Handkante. Jonah war nicht beeindruckt.

„Und ich kann Leiter-Leiter“, sagte er.

„Leiter-Leiter? Ich glaub, Sie spinnen. Das gibt es gar nicht“, regte sich der große Mann auf.

„Warum hab ich dann eine Leiter mit? Leiter-Leiter ist eine alte japanische Kampfkunst. Sie darf nicht gelehrt werden außerhalb Japans. Zu gefährlich. Zehn Mann verlieren gegen einen mit einer Leiter. Mein Meister hieß Schiki Bascho. Ich hab drei Jahre bei ihm gelernt, bin Spezialist für Leiter-Leiter“, erklärte Jonah.

Der große Mann wurde unsicher. Dann richtete er sich auf und ließ die Hand sinken. „Und jetzt?“, fragte er.

„Jetzt muss Plan A geändert werden. Sie gehen in diese Richtung.“ Jonah deutete zur Straße. „Und ich in diese.“ Jonah deutete mit dem Kopf Richtung Mülltonnen.

„Keine Polizei?“, erkundigte sich der große Mann.

„Die Polizei wird mir kein Wort glauben“, behauptete Jonah.

„Warum nicht?“, wollte der große Mann wissen.

„Sagen wir mal so: Ich bin bekannt dafür, Geschichten zu erfinden“, erläuterte Jonah.

„Aha. Also ich die Richtung und Sie Richtung Mülltonnen“, fasste der große Mann zusammen.

„Richtig“, bestätigte Jonah. Und der große Mann drehte sich abrupt um und ging.
Jonah schaute ihm grinsend nach. Er stellte die Leiter gegen die Wand und hängte den Gürtel darüber. Dann ging er nach links zu den Mülltonnen. Er zog eine Tonne aus ihrer Box, öffnete den Deckel und versenkte den Müllbeutel. 

Auf einmal bekam er von hinten einen Stoß, er wurde hochgehoben und in die Tonne gestoßen. Er fiel und fiel und fiel in die Tiefe. Zu seinem Glück landete er weich auf dem Müll.

Jonah drehte sich um, schaute in die Höhe. Er sah das Gesicht des großen Mannes, der ihm ein gehässiges „Ha!“ zuschrie. Die Klappe fiel zu und es war finster, undurchdringlich finster. Jonah tastete sich zur Tonnenwand. Er versuchte, mit dem Rücken angelehnt eine bequeme Sitzposition zu finden.
Die vollkommene Schwärze war beängstigend. „Also Plan B“, sprach er ins Dunkel. Er hob die Hand. ‚Ich sehe die Hand vor Augen nicht‘, dachte er. ‚Das gibt’s also wirklich. Hab ich irgendwas dabei, um Licht zu machen? Nein. Wer bringt Kerzen mit, wenn er den Müll rausbringt?‘

Er spürte ein Vibrieren. Es schien fern zu sein. Doch nach kurzer Zeit kam es näher. „Die Müllabfuhr!“, rief er. ‚Wenn der Müllwagen gleich hier ist, klappt Plan B nicht mehr‘, dachte Jonah. ‚Was jetzt? Ich brauche einen neuen Plan. Ah, Plan C: Weltreise im Müllmobil! Erste Station Kalkutta. Das ist eine große Stadt. Da gibt’s viel Müll. Das lohnt sich. Und dann: Panama. Es soll dort sehr schön sein. Die sind sicher froh, wenn ihnen jemand beim Müllsammeln hilft.‘

Plötzlich wurde seine Tonne bewegt. Sie neigte sich zur Seite, er kam mit den Müllbeuteln ins Rutschen. Dann ging die Klappe auf.

„Ui, wen haben wir denn da?“, hörte er jemanden sagen. 

Der plötzliche Lichteinfall blendete Jonah. Er blinzelte, hielt die Hand gegen das Licht und sagte: „Wir haben hier einen fast blinden Passagier auf großer Fahrt Richtung Kalkutta und Panama.“

„Nee“, sagte die Stimme, „das wird nix. Ich will heut Abend kegeln, da ist so ein Umweg nicht drin. Wir haben auch keine Erlaubnis für den Panama-Kanal.“

„Schade“, entgegnete Jonah. „Dann steig ich besser aus.“

Der Müllmann half ihm, aus der Tonne zu klettern. Jonah ging zur Seite, die Tonne wurde geleert.

„Ich nehm sie schon“, sagte er.

„Alles klar“, erwiderte der Müllmann. „Hier ist noch eure zweite. Vielleicht klappt’s beim nächsten Mal.“

„Ja, vielleicht“, stimmte Jonah zweifelnd zu und zog die Mülltonnen von der Straße.

Er verstaute sie in der Box, ging ins Haus und schloss die Tür. Er stieg die erste Treppe hoch, wendete und stieg die zweite Treppe hoch. Die Wohnungstür stand offen. ‚So ein Glück‘, dachte er, ‚ich hab meinen Schlüssel gar nicht mitgenommen.‘

Kaum in der Wohnung, rief Jonah: „Bin wieder da!“

„Alles gutgegangen?“, kam es aus der Küche.

„Fast hätte ich ein Abenteuer erlebt. Ich fiel in die Mülltonne. Also Plan B, aber dann kam die Müllabfuhr ...“

„Oh, daran habe ich gar nicht gedacht.“

„Du kannst nicht an alles denken als Schönste aller Zeiten aller Welten.“

„Sag nicht immer so was.“

„Was?“

„Du weißt schon.“

„Nein, ich weiß nicht. Egal, zurück zur Mülltonne. Mir fiel Plan C ein: Große Weltreise im Müllmobil, Kalkutta, Panama, als blinder Passagier, denn ich hab überhaupt nichts gesehen. Aber die Müllmänner wollten abends kegeln. Also wurd nichts draus.“

„Du bist völlig verrückt!“

„Normal ist auch nicht auszuhalten in diesen Zeiten.“

„Ich weiß nicht, verrückt ist manchmal etwas anstrengend.“

„Sagt die Frau, die Tipps gibt im Umgang mit Krokodilen. Aber morgen koche ich, dann wirst du gestärkt. Ich mache gebratenes Fruchtfleisch in Zimtsoße und dazu: Pizza, Pommes, Paprika Chips. Freust dich?“

„Sicher, doch nun wasch dir die Hände, wir können gleich essen.“

„Immer muss ich Hände waschen. Du redest wie meine Mutter.“

„Und du wie ein kleines Kind.“

„Schön, dass wir uns einig sind.“

Jonah ging ins Bad, wusch sich die Hände. Er ging er in die Küche, nahm ein Glas vom Regal. Er holte eine Packung Apfelsaft aus dem Kühlschrank und goss ein. Nachdem er die Packung zurückgestellt hatte, öffnete er das Gefrierfach. Nichts weckte seinen Hunger. Er schloss das Fach und den Kühlschrank. Er nahm sein Glas und wollte die Küche verlassen. Abrupt blieb er stehen, lauschte.

Stille, absolute Stille. Er schaute sich in der Küche um. Alles war sauber, alles war ordentlich und – still. Er presste die Lippen zusammen, atmete tief durch die Nase ein – und hörbar wieder aus.

„Ich muss damit aufhören“, flüsterte Jonah, „sonst glaub ich irgendwann, dass es sie wirklich gibt.“

Die Kunst der Einfachheit 2024 

Gerade hast du einen der 10 besten Texte des Wettbewerbs gelesen. Alle 10 Texte kannst du hier auf dem Blog lesen. Bis zum 1. August veröffentlichen wir jeden Mittwoch und jeden Freitag wir einen Text.

Nun kannst du abstimmen.
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Wenn du magst, lies alle 10 Texte. Oder höre sie dir an. Hab viel Spaß dabei.

Die Abstimmung endet am 8. August 2025.

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