Die Kunst der Einfacheit: Donuts und andere Löcher Vorlesen

09. Jul 2025Dalja und Marie
Publikumspreis 2024

Nie passiert mir etwas!
Ich gehe und setze mich auf eine Bank im Wiener Stadtpark.
Packe die Tüte mit den Donuts aus.
Erdbeer, Vanille, Karamell.
Ein Donut ist eigentlich auch nur ein Loch mit viel Zucker und Creme rundherum.
Ich beiße in den ersten.
Wieder ein langweiliger Tag im Büro. Nie passiert etwas.
Ich nehme den zweiten Donut.
Nie …

Da stürzt ein Meteor vom Himmel und reißt ein Loch in die Erde. Direkt vor mir.
Ich stürze hinein und falle.
Falle immer tiefer.
Der Himmel oben ist bald nur noch eine kleine helle Scheibe. Kaum größer als eine Münze.
Dann ist es dunkel und ich falle weiter.
Es wird schwarz um mich, schwärzer geht nicht.
Aber dann sehe ich auf der anderen Seite wieder eine kleine helle Scheibe. Wie eine Münze.
Sie wird rasch größer und heller.
Bald sehe ich blauen Himmel und Wolken.

Ich falle heraus aus dem Loch und lande mitten auf der Straße.
Autos fahren auf beiden Seiten vorbei und hupen. Die Fahrer kurbeln ihre Fenster herunter und schreien mich an.
Die nächste Ampel geht auf Rot und die Straße leert sich. Ich laufe schnell auf die Seite und eine Treppe hinauf. Dort ist eine Art erhöhter Gehweg. Da habe ich vielleicht einen Überblick und kann sehen, wo ich bin. Denn Wien ist das hier nicht.

Vor mir sehe ich jetzt einen breiten Fluss. Und auf der anderen Seite hohe Wolkenkratzer.
Das kenne ich doch! Das habe ich schon mal irgendwo gesehen …
Nicht in echt, aber in einer Zeitung.
Shanghai!!!
Vor mir ist der Huangpu-Fluss, dahinter die Wolkenkratzer von Pudong.
Ich bin einfach durch die Erde gefallen. Mitten durch. Und auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Das ist ja …

„Junger Mann, schnell, ich brauche Ihre Hilfe!“
„Was…?“
„Kommen Sie, kommen Sie.“
Ein Mann zerrt mich die Treppe hinunter, zurück zur Straße. Er winkt ein Taxi her und schiebt mich hinein.
„Jing’an Tempel“, sagt er und schon brausen wir los.
„Was wollen Sie von mir?“, frage ich.
„Ich brauche Ihre Hilfe, das habe ich doch gesagt. Ihr jungen Leute hört nie zu. Immer nur aufs Handy schauen, nicht wahr?“
„Ich habe doch gar nicht …!“
„Tz, tz, tz …“ Der alte Mann schüttelt den Kopf. Er nimmt sein Handy und schreibt fieberhaft mehrere Nachrichten.
„Wir gehen also in den Tempel?“, versuche ich es noch einmal.
„Wieso? Was wollen Sie im Tempel?“
„Das haben Sie dem Taxifahrer doch gesagt: Jing’an Tempel.“
„Wir gehen Donuts essen.“

Das Taxi hält an. Um uns herum sind viele Leute, schicke Läden und glänzende Einkaufzentren.
Und das da hinten muss der Jing’an Tempel sein.
Hohe alte Gebäude ragen in den Himmel. Darauf geschwungene goldene Dächer.
„Der Tempel ist sehr schön“, sagte ich.
„Wir machen hier keine Stadtrundfahrt!“, sagt der alte Mann und zerrt an meinem Arm.
„Wohin …?“
„Sie hören nie zu, oder? Donuts essen, habe ich gesagt. D – O – N – U – T – S.“
Auf der anderen Straßenseite ist ein Donut-Café. Der Mann bestellt sechs Donuts und zwei Kaffee. Wir setzen uns in eine ruhige Ecke.
Er isst einen Donut. Trinkt etwas Kaffee. Isst noch einen Donut.
Ich probiere einen.
Schmeckt auch nicht viel anders als zu Hause.

„Kennen sie meine Tochter?“, fragt der Mann.
Er schlingt seinen dritten Donut hinunter und trinkt seinen Kaffee aus.
„Natürlich …“
„Das ist gut. Dann muss ich nicht viel erklären.“
„… nicht“, setze ich fort.
„Sie ist verschwunden.“
„Das tut mir leid.“
„Sie müssen sie wiederfinden.“
„Wieso ich?“

Er zeigt mir ein Bild von einer jungen Frau. Sie hat einen Motorradhelm in der Hand. Neben ihr steht ein Go-Kart. Und im Hintergrund sieht man eine große Autobahnbrücke. Mit vielen Autobahnschleifen.
„Das ist Jueye.“
Der Mann zerrt an meinem Ärmel. „Kommen Sie!“
„Aber ich habe erst einen einzigen Donut gegessen. Meinen Kaffee habe ich auch noch nicht getrunken.“
„Keine Zeit, essen Sie im Taxi.“

Unser neues Ziel ist die Nanpu Brücke.
Ich kaue schweigend an meinen Donuts. Das Taxi braust zwischen Hochhäusern durch, über die Hochstraße. Der Fahrer schreit Sprachnachrichten in sein Mobiltelefon. Er lacht nervös über die, die zurückkommen.
Wir überqueren den Fluss. Die Brücke habe ich eben auf dem Foto gesehen.
Dann fahren wir von der Hochstraße ab und bleiben stehen.
Hier ist doch gar nichts.
Nur ein riesiger, leerer Platz. Dahinter der Fluss und die Brücke mit den vielen Schleifen.
Und dann ist da noch eine Rennstrecke für Go-Karts. Man bemerkt sie fast nicht, weil der Platz so groß ist.
Wir gehen näher. Die Bahn ist mit alten Autoreifen markiert. Daneben steht ein kleines Häuschen mit der Aufschrift „Tickets“. Es ist leer.

„Von hier habe ich das letzte Foto von meiner Tochter bekommen. Das haben Sie ja gesehen“, sagt der Mann.
„Äh… ja?“
„Hier ist sie verschwunden.“
„Vielleicht ist sie einfach shoppen gegangen?
„Shoppen?“
„Oder in den Tempel.“
„Warum sollte Jueye in den Tempel gehen?“
„Vielleicht will sie mit Buddha reden.“
„Meine Tochter geht nicht in den Tempel. Sie ist verschwunden.“

Der Mann zerrt mich näher zur Go-Kart-Bahn.
Dort ist ein Loch! Mitten auf der Strecke. Es sieht so ähnlich aus wie das Loch im Stadtpark. Durch das ich gefallen bin.
„Ein Meteorit“, sage ich.
„Wieso ein Meteorit?“
„Ich bin durch ein ähnliches Loch nach Shanghai gekommen. Ein Loch von einem Meteoriten.“
Ich beuge mich hinunter und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
„Und Sie glauben, Ihre Tochter ist da reingefallen?“, frage ich.
„Shoppen ist sie jedenfalls nicht.“
„Töchter sagen ihren Vätern nicht immer, wo sie hingehen.“

Der Mann sieht angestrengt in das Loch.
„Wie tief ist es, denken Sie?“, frage ich.
„Kann man nicht sagen.“
„Vielleicht ist Ihre Tochter durch das Loch gefallen und auf der anderen Seite der Erde wieder herausgekommen. Vielleicht ist sie jetzt in Wien.“
„Wieso in Wien?“
„Oder in Paris. Oder London.“
„Wien, Paris, London. Ist ja alles das gleiche. Europa ist so klein. Da kann sie überall herauskommen.“
„Vielleicht auch Oslo“, sage ich. „Oder Budapest.“
„Sie brauchen nicht noch mehr Städte aufzählen.“

Ich werfe einen kleinen Stein in das Loch.
„He, was machen Sie da?“
„Ich teste, wie tief das Loch ist.“
„Werfen Sie keine Steine in das Loch. Vielleicht ist meine Tochter da drin. Dann fallen sie ihr auf den Kopf.“
„Wahrscheinlich ist sie schon in Wien. Oder in Oslo.“
Der Mann sieht mich an und seine Augen werden schmal.
„Springen Sie rein“, sagt er. „Holen sie meine Tochter zurück.“
„Ich springe nicht in unbekannte Löcher.“
„Ich habe ihnen Donuts gekauft. Und Kaffee.“
„Der Kaffee war aber nicht gut.“
„Ja stimmt, viel zu bitter. Kann man kaum trinken.“
Ich schaue wieder ins Loch.
„Aber die Donuts waren gut“, sagt er.
Ich trete näher zur Kante.
„Wird schon schiefgehen“, sagt der Mann und gibt mir einen Schubs.
„He …!“

Ich falle, und wieder wird das Loch oben zu einer kleinen Scheibe. Dann verschwindet es und alles wird dunkel. Und auf der anderen Seite taucht wieder eine kleine Scheibe auf.
Sie wird schnell größer.
Ich falle aus dem Loch heraus.

„He, aufpassen! Warum sitzen Sie da auf dem Boden?“
Touristen schieben sich an mir vorbei und beschweren sich.
Ich sehe mich um.
Ein großer Turm ist neben mir. Ein Turm aus Eisenstangen. Der Eiffelturm.
Also nicht Oslo oder Wien.
Ich bin in Paris.
Auf einer Bank in der Nähe sitzt eine junge Chinesin und tippt in ihr Handy.
Ich setze mich zu ihr.
„Mögen Sie Donuts?“, frage ich.
„Wieso Donuts …?“
„Wollen Sie mit mir Donuts essen gehen? Ich kenne hier einen netten Laden.“
„Der ist sicher nicht gut. Hier sind ja nur Touristen.“
„Er ist ein paar Straßen entfernt. Da kommen wenig Touristen hin.“
„Also gut …“

Wir gehen schweigend, und langsam werden die Touristen weniger.
Wir biegen noch einmal um die Ecke, dann stehen wir vor dem Laden: Paris Donuts.
Ich bestelle 6 Donuts und zwei Kaffee und wir setzen uns in eine ruhige Ecke.
Ich esse den ersten, ich brauche jetzt unbedingt Zucker.
Die junge Frau nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee.
Ich esse den zweiten Donut.

„Ihr Vater schickt mich“, sage ich.
„Das habe ich mir gedacht. Wie haben Sie gewusst, dass ich es bin?“
„Er hat mir ein Foto von Ihnen gezeigt. Vom Go-Kart fahren.“
Jueye nimmt einen kleinen Bissen von ihrem Donut.
„Wollen Sie nicht zurück nach Shanghai?“, frage ich.
„Ich bin doch gerade erst hier angekommen.“
„Ihr Vater macht sich Sorgen.“

Da stürmen drei Männer durch die Eingangstüre. Ihre Gesichter sind mit Schals vermummt und unter ihren Jacken haben sie Pistolen.
„Gebt uns all eure Donuts“, schreit der Erste.
„Und all euren Kaffee“, der Zweite.
„Und all eure …“ Der Dritte spricht nicht weiter. Er weiß nicht, was sie noch wollen.
„Sie sprechen mit Akzent, Sie sind keine Franzosen, oder?“, sage ich zu ihnen.
„Sind Sie von der Sprachpolizei?“, fragt der Erste wütend.
„Aber es stimmt, wir sind nicht von hier“, sagt der Zweite.
„Wir sind nur auf der Durchreise und haben Hunger“, flüstert der Dritte. „Aber unser Geld ist aus.“
„Kommen Sie, ich lade Sie ein“, sage ich. „Wir haben noch Platz an unserem Tisch.“
„Na, wenn das so ist …“ Die Drei legen ihre Schals ab und ziehen die Hände aus den Taschen. Sie haben gar keine Pistolen darin, das sieht man jetzt.

„Ich bin Rollo“, sagt der Erste.
„Und ich Lollo“, sagt der Zweite.
„Und ich …“ der Dritte mache eine kurze Pause, „bin Kunibert.“
„Angenehm, Jueye“, sagt meine Tischnachbarin.
„Wie viele Donuts dürfen wir haben?“, fragt Rollo.
„So viele Sie wollen.“
„Dann nehmen wir Erdbeer, Schokolade, zwei Mal Vanillepudding, Karamell, Himbeer-Zitrone, Oreo-Kekse, Pistazie, Blaubeere, Zimt-Mohn. Und drei mit bunten Streuseln.“
„Und für mich Vanilletraum und …“
„Ich habe schon für alle bestellt“, sagt Rollo.
„Ach so“, meint Lollo. „Hoffentlich haben wir genug.“
Die Donuts kommen und es ist erstmal Ruhe.
Alle essen.

„Wo kommen Sie her?“, frage ich dann.
„Wir waren gerade in der Bretagne. Am längsten Strand Europas.“
„Aber es war zu kalt zum Baden.“
„Jetzt im Herbst wird es schnell kalt, wenn die Sonne nicht mehr scheint.“
„Und wo wollen Sie als nächstes hin?“, frage ich.
„Zurück nach Wien. Da wohnen wir.“
„Wien – das ist gut. Darf ich mitfahren? Ich glaube, es gibt kein Meteoritenloch von Paris nach Wien.“
Sie schauen mich fragend an.
Ich erkläre nichts.
„Und Sie?“, frage ich Jueye. „Springen Sie zurück nach Shanghai?“
„Zuerst gehe ich noch ein bisschen shoppen.“
Ich habe es doch gewusst.

Die drei Männer haben aufgegessen.
„Kommen Sie?“, fragt Kunibert. „Wir brechen auf.“
„Wo steht denn Ihr Auto?“
„Wir haben kein Auto“, sagt Rollo. „Wir gehen einfach auf dem Eiffelturm. Und hängen uns an das nächste Flugzeug, das vorbeifliegt.“
Eine gute Idee! Praktisch und billig.

„Sie sollten nach Shanghai zurückspringen“, sage ich zu Jueye. „Ihr Vater macht sich wirklich Sorgen.“
„Immer macht er sich Sorgen. Keinen Schritt kann man alleine tun.“
Wir gehen zurück zum Eiffelturm.
Ich winke der jungen Frau zum Abschied. Dann fahre ich mit den drei Männern mit dem Lift bis auf die Spitze des Eiffelturms.

Zum Glück kommt gerade ein Flugzeug vorbei, das in die Türkei fliegt. Dabei fliegt es auch über Wien.
Wir hängen uns an und fliegen mit.
„Sehen Sie, da unten ist Wien“, sagt Rollo nach einer Weile.
„Hier sollten Sie abspringen“, sagt Lollo.
„Wir fliegen noch weiter. Wir haben uns anders entschieden“, erklärt Kunibert. „Wir wollen ans Schwarze Meer. Da ist es wärmer als in der Bretagne. Da kann man vielleicht noch baden.“
„Möchten Sie nicht mitkommen?“, fragt Rollo.
„Ich muss morgen leider ins Büro. Viel Spaß am Strand“, sage ich und springe.

Die Lichter von Wien blinken unter mir und ich segle langsam zum Stadtpark. Sanft lande ich auf meiner Bank.

Ich reibe mir die Augen und sehe mich um. Es wird langsam dunkel. Ich fröstle ein bisschen.
Jetzt im Herbst wird es schnell kalt, wenn die Sonne weg ist.
Ich stehe auf und mache mich auf den Weg nach Hause.
Vielleicht sollte ich mal nach Shanghai fahren. Oder zumindest nach Paris.

Die Kunst der Einfachheit 2024 

Gerade hast du einen der 10 besten Texte des Wettbewerbs gelesen. Alle 10 Texte kannst du hier auf dem Blog lesen. Bis zum 1. August veröffentlichen wir jeden Mittwoch und jeden Freitag wir einen Text.

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Die Abstimmung endet am 8. August 2025.

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