Die Kunst der Einfachheit: Die Nacht der Wölfe Vorlesen

04. Jul 2025Dalja und Marie
Publikumspreis 2024

Dichter Nebel lag über dem Tal. Im Laufe des Vormittags hob er sich ein wenig und die Sonne erwärmte die feuchte Herbstluft. Espe freute sich über die letzten warmen Sonnenstrahlen in diesem Jahr.

Sie saß auf einem Felsen und zählte ihre Schafe. Immer, wenn sie fast fertig war, liefen sie durcheinander. Als Schäferin musste man geduldig sein. Das hatte sie im letzten Jahr gelernt. Am Ende zählte sie 200 Schafe. Keines mehr und keines weniger. Genau, wie es sein sollte.

Zufrieden sprang sie vom Felsen und packte ihr Frühstück aus. Brot, Käse und einen Apfel. Sie pfiff Paku und Niska herbei. Die beiden Hütehunde sollten auch ihr Frühstück bekommen. Ehe sie selbst aß, warf sie ihnen kleine Brocken getrocknetes Fleisch zu. Die Hunde hielten die Herde zusammen und beschützen sie.

Trotz der Sonne fror Espe an diesem Morgen. Die Feuchtigkeit kroch ihr unter die Weste und den dicken Pullover aus Schafswolle, den die Mutter ihr zu Weihnachten gestrickt hatte. Letztes Jahr schien Espe ebenso weit entfernt wie der Mond. Letztes Jahr war sie noch zur Schule gegangen. Sie hatte Kleider und lange Zöpfe getragen und wenn Pablo sie ansah, war sie rot geworden.

Espe kraulte Niskas Ohren. Paku legte seine Pfote auf ihr Bein. Sie gab ihm noch ein Stück Fleisch. Nächste Woche war das große Erntefest. Dann würde sie ihre Mutter wiedersehen. Und Pablo. Der würde Augen machen! Sie war gewachsen und nicht mehr das schmale Mädchen von früher, das er kannte.

Espe packte den Rest ihres Frühstücks in den Rucksack und wippte von den Fersen auf die Fußballen. Hin und her, vor und zurück, schneller und schneller. Langsam wurde ihr warm. Das war ein alter Schäfertrick. Davon gab es eine Menge. Arno kannte sie alle. Er wusste auch die Worte, die man den Hunden ins Ohr flüstern musste, damit sie einem folgten. Er hatte ihr vier verschiedene Pfiffe beigebracht.
Bei jedem Pfiff wussten die Hunde sofort, was zu tun war.

„Ich will Schäferin werden“, hatte Espe letztes Jahr beim Erntefest verkündet. Die Leute im Dorf waren überrascht. Dann redeten alle durcheinander. „Ein Mädchen kann doch nicht Schäferin werden“, sagten die einen. „Das ist viel zu gefährlich“, sagten die anderen.
Arno kam zu Espe und legte seinen Arm um sie. „Hör nicht auf die Leute. Du wirst meine Nachfolgerin“, sagte er laut und deutlich. Und dabei blieb es. Arno war alt und er war der beste Schäfer weit und breit. Niemand im Dorf widersprach Arno.

Gleich nach der Schneeschmelze begann Espes Ausbildung. Arno zeigte zum Himmel, wo ein Raubvogel seine Kreise zog. „Ein Adler kann für ein neugeborenes Lamm gefährlich werden“, sagte er. „Du musst den Himmel immer genau beobachten.“ Das war ihre erste Lektion gewesen.

Ein paar Wochen später half Espe bei der Schafschur. Sie spürte die weiche Haut unter der dichten Wolle. Arno machte ihr vor, wie man ein Schaf schor. Vorsichtig, damit man das Tier nicht verletzte. Und dann hatte er ihr das Messer gegeben. Der Stahl blitzte in der Sonne wie der Gipfel des Berges.

Im Frühjahr zog Espe mit Arno, den Schafen und den Hunden über die Weiden. Jeden Tag lernte sie etwas Neues. Arno zeigte ihr die Plätze mit den saftigsten Gräsern, wie man ein Schaf von Dornen befreite, Zecken entfernte und Wunden mit Kräutern heilte. Von Arno lernte sie auch das Flötenspiel.

Espe liebte dieses freie Leben. Jeder Tag war neu und aufregend. Noch nie war sie so glücklich gewesen. Der Alltag der Frauen im Dorf war eintönig. Kochen, backen, stricken, putzen. Tagaus, tagein. Die Küchen waren klein und verqualmt vom Holzfeuer. Die Gassen im Dorf eng und dunkel. Hier draußen war Espe schon vor Sonnenaufgang bei den Schafen. Der Himmel war hell und weit. Kam die Sonne über den Berg, leuchteten die Wiesen, als wären sie mit Gold überflutet.

Für Espe hätte es immer so weitergehen können. Doch mitten im Sommer wurde Arno krank. Er hustete und keuchte bei jedem Schritt. Seine Kraft ließ nach und seine Augen wurden trüb. Eines Tages konnte er die Raubvögel am Himmel nicht mehr erkennen. „Ich muss ins Dorf und mich ausruhen“, sagte er.
„Und was wird aus mir?“, fragte Espe. Sie fürchtete, Arno würde die Herde mitnehmen ins Dorf.
„Du bist jetzt die Schäferin. Pass gut auf meine Schafe und die Hunde auf“, sagte er.

Anfangs vermisste Espe den alten Arno. Sie musste alles alleine machen. Aber sie gewöhnte sich daran. Den ganzen Sommer über zog sie mit der Herde von Weide zu Weide. Mit Paku und Niska und dem Wind, der vom Berg kam und über das Gras strich. Abends spielte sie auf der Flöte und sah hinauf in den funkelnden Sternenhimmel.

Espe warf einen Blick auf die Tiere. Die Schafe ließen sich das würzige Herbstgras schmecken. Den ganzen Sommer und Frühherbst über hatte sie kein einziges Schaf verloren. Immer wieder sah sie hinüber zum Berg. Die Felsen leuchteten hell in der Morgensonne.

Aber der Berg konnte auch gefährlich sein mit seinem Geröll und den Sturzbächen nach der Schneeschmelze. Doch am meisten fürchtete Espe den Berg wegen der Wölfe. Jetzt im Spätherbst würden sie ins Tal runterkommen.

Die Wölfe waren hungrig. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich ein Schaf holten. Wie konnte man sich gegen die Wölfe wehren? Espe hatte vergessen, Arno danach zu fragen. Und jetzt war es zu spät. Sie war auf sich allein gestellt. Das erste Mal musste sie selbst entscheiden, was zu tun war. Sie durfte nicht länger warten. Gleich Morgen würde sie die Schafe ins Dorf treiben.

Am Nachmittag fing es an zu nieseln. Es dämmerte früh. Espe trieb die Herde von der Weide auf die Koppel. Der Zaun bot etwas Schutz, obwohl er ein Rudel Wölfe kaum abhalten würde. Der Regen wurde immer dichter und die Tiere drängten sich aneinander.
Paku und Niska rannten hin und her, bellten und suchten Espes Nähe. Auch sie spürten die Gefahr.

Als es Nacht wurde, legte Espe sich auf ihr Lager. Sonst schlief sie immer sofort ein. Sie hatte viel Arbeit und die Tage waren lang. Sie trieb die Herde von einer Weide zur anderen. Sie passte auf, dass die Lämmer sicher durch die Bäche kamen. Sie melkte die Mutterschafe, reparierte Zäune und sammelte Heilkräuter. Sie war todmüde. Doch in dieser Nacht konnte sie kein Auge zumachen.

Espe lag in ihrem Schlafsack und lauschte in die Dunkelheit. Es war windstill. Kein Geräusch weit und breit. Die Stille war anders als sonst, unheimlich. Da, ein Ton. Weit entfernt, aber deutlich hörbar. Das Heulen der Wölfe. Espe zitterte am ganzen Leib. So fühlte sich es also an, wenn die Wölfe kamen. Ihre Zähne schlugen vor Angst gegeneinander. Sie hielt sich die Ohren zu. Das Geheul kam näher, es wurde lauter und lauter.

Espe zog sich die Decke über den Kopf. Da hörte sie Arnos Stimme. „Ein echter Schäfer zeigt sich erst in der Gefahr“, sagte er. Jetzt war dieser Moment gekommen. War sie eine echte Schäferin? Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie hierher gehörte. Zu ihren Schafen, zu Paku und Niska. Das hier war ihr Leben. Kein Wolf der Welt konnte das ändern.

„Steh auf Espe“, sprach sie sich selbst Mut zu. Ihre feste Stimme gegen das schaurige Geheul der Wölfe. Das war ein Anfang. Sie fühlte sich schon besser. Espe stand auf, wickelte sich in ihren dicken Mantel, griff nach dem Schäferstock und ging los.

Die Hunde bellten, die Schafe liefen unruhig hin und her und blökten ängstlich. Der Regen hatte aufgehört und der Vollmond leuchtete durch die Wolken. Espe war dem guten alten Mond dankbar. Sein Licht würde sie beschützen. Sie spitzte die Ohren. Das Geheul hatte aufgehört. Das bedeutete, die Wölfe waren da. Auch wenn sie sie nicht sehen konnte. Sie spürte es. Und die Tiere spürten es auch.

Paku und Niska rannten am Zaun auf und ab. Espe packte den Stock mit beiden Händen. Es war ein starker Eichenstock. Damit konnte sie sich verteidigen. Im schlimmsten Fall würden die Wölfe ein oder zwei Schafe reißen. „An Menschen trauen sie sich nicht heran“, hatte Arno gesagt. Aber er war viel größer und stärker gewesen als sie. Er hatte auch ein Gewehr gehabt. Da sagte sich so etwas leicht.

Arno hatte ihr beim Abschied Mantel, Tasche und seinen Schäferstock geschenkt. Das Gewehr lag im Schuppen. Aber was nutzte es, wenn sie nicht damit umgehen konnte. Ich muss unbedingt lernen, wie man schießt, dachte Espe. Aber erst einmal musste sie die Wölfe verjagen. Sonst würde es kein nächstes Jahr für sie als Schäferin geben.

Sie rannte zum Zaun. Paku und Niska waren dicht an ihrer Seite,
sie sah ihre angelegten Ohren und hörte ihr Knurren. Plötzlich blieben sie stehen. Espe machte noch einen Schritt und erstarrte. Eine eisige Hand griff an ihr Herz. Der Wolf stand auf der anderen Seite des Zauns und sah sie an. Groß und mächtig mit gelben Augen, die im Mondlicht glänzten. Hinter ihm warteten die anderen Wölfe, bereit zum Angriff. Im nächsten Moment würde der Leitwolf über den Zaun springen.

Espe stieß einen langen und heiseren Schrei aus, hob ihren Stock und ließ ihn über dem Kopf kreisen. Das Holz glänzte im Mondlicht wie ein silbernes Schwert.

Der Wolf drehte mitten im Sprung ab und rannte ein Stück zurück, ehe er stehen blieb. Espe schrie weiter, vor Angst oder Erleichterung, sie wusste es selbst nicht. Ihr Schrei war hell und laut und der Wind trug ihn weit über das Tal. Die Hunde bellten, die Schafe blökten, die Wölfe schwiegen. Langsam zogen sie sich zurück. Sie blieben in der Nähe, doch Espe wusste, diese Nacht würden sie nicht wieder angreifen.

Als es hell wurde, zählte Espe ihre Schafe. Immer, wenn sie fast fertig war, liefen sie durcheinander. Als Schäferin musste man geduldig sein. Schließlich kam sie auf 200 Schafe.
Keines mehr und keines weniger.

Espe war stolz auf sich. Sie war Arnos Nachfolgerin. Keiner im Dorf würde jetzt noch an ihr zweifeln. Sie dachte an den Leitwolf mit seinen gelben Augen. Sofort bekam sie wieder Gänsehaut. Selbst Arno hatte sich vor den Wölfen gefürchtet, trotz des Gewehrs. Wahrscheinlich würde sie die Angst vor den Wölfen nie verlieren. Niemand konnte das.

Espe packte ihren Rucksack. Es wurde Zeit. Sie öffnete den Zaun, pfiff die Hunde herbei und machte sich mit ihren Schafen auf den Weg ins Dorf.

Die Kunst der Einfachheit 2024 

Gerade hast du einen der 10 besten Texte des Wettbewerbs gelesen. Alle 10 Texte kannst du hier auf dem Blog lesen. Bis zum 1. August veröffentlichen wir jeden Mittwoch und jeden Freitag wir einen Text.

Nun kannst du abstimmen.
Gefällt dir dieser Text? Dann gib dem Text ein Herz. Du kannst auch einen Kommentar schreiben. Der Text mit den meisten Herzen und besten Kommentaren bekommt den Publikumspreis.

Wenn du magst, lies alle 10 Texte. Oder höre sie dir an. Hab viel Spaß dabei.

Die Abstimmung endet am 8. August 2025.

1 Person gefällt das

0Noch keine Kommentare

Ihr Kommentar
Antwort auf:  Direkt auf das Thema antworten