
Sie steht am Ufer und blickt über das Wasser.
Es ist ganz still.
Das Wasser liegt ruhig vor ihr.
Niemand ist in der Nähe.
Nora ist ganz alleine.
Das findet sie ganz schön abenteuerlich.
Aber heute ist der Tag, an dem sie sich traut.
Der Tag, an dem sie mutig ist.
Sie zieht ihre Schuhe und Socken aus.
Sie zieht ihre Hose aus.
Sie zieht ihren Pulli aus.
Jetzt steht Nora hier.
Im Badeanzug.
Morgens um halb sieben.
Es ist kalt.
Doch die Sonne geht gerade auf.
„In einer halben Stunde wird es wärmer“, sagt Nora.
„Aber dann kommen auch bald die anderen Leute.“
Nora will alleine schwimmen.
Sie will den See für sich haben.
Sie will, dass niemand sie im Badeanzug sieht.
Weil sie sich hässlich findet.
Zu dick.
Mit zu vielen Haaren an den Beinen.
Mit kleinen Pickeln am Rücken.
Ein paar Tage hat sie weniger gegessen.
Aber sie wird nur ganz langsam dünner.
Und sie liebt so viele Sachen, die man essen kann.
Sie hat ihre Beine rasiert.
Aber die Haare waren zwei Tage später wieder da.
Und sie pieken.
Das tut richtig fies weh.
Beine rasieren ist so anstrengend.
Und gegen die Pickel auf ihrem Rücken hilft keine Salbe.
Mist.
„Bewegung ist gut“, hat Noras Freundin gesagt.
„Dann nimmst du besser ab.“
Aber Nora findet Bewegung doof.
Rennen strengt sie an.
Turnen tut ihr weh.
Rad fahren ist ihr viel zu gefährlich.
Sie hatte einmal einen Unfall mit dem Fahrrad.
Seitdem ist sie nicht mehr gefahren.
Nur schwimmen findet Nora gut.
Dann schwebt sie im Wasser.
Die Bewegungen werden ganz leicht.
Aber Nora schwimmt trotzdem nicht.
Weil alle Leute sie dann im Badeanzug sehen.
Weil alle Leute dann noch besser sehen, dass sie dick ist.
Nora schüttelt den Kopf.
Jetzt ist sie hier.
Zum Schwimmen.
Ganz früh morgens.
Sie will sich beeilen.
Wenn die ersten Menschen zum Baden kommen, muss sie fertig sein.
Dann will sie wieder angezogen auf der Wiese sitzen.
In Noras Bauch kribbelt es.
Sie zittert ein bisschen.
Sie zittert vor Kälte.
Und sie zittert vor Angst.
„Ich schaffe das“, sagt Nora laut zu sich selbst.
Das hilft.
Sie hat das schon ein paar Mal ausprobiert.
„Ich schaffe das.“
Nora streckt die Zehen ins Wasser.
Puh.
Kalt.
Trotzdem weiter.
Ihr rechter Fuß versinkt im Wasser.
Ihr linker Fuß versinkt im Wasser.
Noch ein Schritt.
Jetzt steht sie bis zu den Knien drin.
Noch zwei Schritte.
Jetzt bis zu den Schenkeln.
Bis zum Po.
Und dann lässt sich Nora fallen.
Platsch.
Sie taucht unter.
Sie taucht auf.
Auf ihren Armen wächst eine Gänse-Haut.
Egal.
Nora legt sich aufs Wasser.
Sie schwebt.
Sie schwimmt.
Kleine Wellen schwappen um sie herum.
Etwas streift Noras Fuß.
Sie zuckt zusammen.
Aber sie hat keine Angst.
„War das ein Fisch?“, fragt sie laut.
„Ein kleiner bunter Fisch?“
Nora schließt die Augen.
Ihre kräftigen Arme schieben das Wasser weg.
Sie kommt schnell voran.
„Quak“, macht es plötzlich.
Nora blinzelt.
Ein paar Meter von ihr entfernt sitzt eine Ente.
„Quak“, macht Nora.
Sie lächelt der Ente zu.
Die Ente lächelt zurück.
„Quatsch“, sagt Nora. „Enten lächeln nicht.“
Die Ente paddelt davon.
Nora legt sich auf den Rücken.
Sie lässt sich vom Wasser tragen.
Der Himmel ist so blau wie Marcos Augen.
Sie liebt Marcos Augen.
Aber er schaut sie nur selten damit an.
Er hat eine Freundin.
Die schaut er mit seinen schönen blauen Augen an.
Nora schüttelt den Kopf.
Egal.
Nora bewegt ihre Beine auf und ab.
Sie schwebt im Wasser.
Sie fühlt sich ganz leicht.
Eine Ente fliegt über sie hinweg.
Nora lacht.
Jemand anderes lacht.
Nora zuckt zusammen.
Ihr Kopf versinkt.
Sie schluckt Wasser.
Sie pustet.
Sie hustet.
Sie schlägt wild mit den Armen.
„Ruhig“, denkt Nora.
Sie kann es nur denken.
Wenn sie spricht, schluckt sie noch mehr Wasser.
Sie muss sich beruhigen.
Nora schaut zum Ufer.
Da ist niemand.
Sie dreht sich im Kreis.
Da ist niemand.
Wer hat gelacht?
War das die Ente?
Noras Herz klopft schnell.
Sehr schnell.
Jemand lacht.
Jetzt sieht ihn Nora.
Es ist ein Mann.
Er tanzt über die Wiese.
Ganz nackt.
Er singt.
Er lacht.
Nora friert.
Aber sie muss im Wasser bleiben.
Der Mann darf sie nicht sehen.
Sie will den nackten Mann nicht sehen.
Jetzt hat der Mann Nora entdeckt.
Er winkt.
„Tut mir leid“, ruft er.
„Ich dachte, dass ich alleine bin.
Ich habe Ihre Sachen gar nicht bemerkt.“
Nora dreht den Kopf weg.
„Ich ziehe mich an“, ruft der Mann.
„Dann können Sie rauskommen.
Das Wasser ist doch kalt.“
Nora schaut wieder hin.
Sie zittert.
Der Mann hat jetzt eine Hose an.
Langsam schwimmt sie zum Ufer.
Der Mann schlüpft in ein Hemd.
Nora kann schon stehen.
Aber sie bückt sich.
Sie will, dass das Wasser ihren Körper bedeckt.
Irgendwann geht das nicht mehr.
Sie muss aufstehen.
Das Wasser geht ihr bis zum Bauch.
Ihre Brüste sind über Wasser.
Sie verschränkt die Hände vor der Brust.
Es ist so kalt.
Ihre Zähne klappern.
Sie muss ins Warme.
Sie muss sich in ihr Handtuch kuscheln.
Aber da ist der Mann.
Und was ist das?
Nora hört Stimmen.
Da kommen Leute.
Noch mehr Leute.
Sie muss es jetzt machen.
Sie muss aus dem Wasser.
Nora denkt: So etwas Schwieriges habe ich noch nie gemacht.
Langsam setzt Nora einen Fuß vor den anderen.
Das Wasser geht ihr bis zum Po.
Bis zu den Schenkeln.
Bis zu den Knien.
Nora steht auf der Wiese.
Sie entdeckt ein paar Leute.
Doch die haben Ihre Handtücher weit weg ausgebreitet.
Nora kann sie kaum sehen.
Nur hören.
Aber der Mann ist noch da.
Er kramt in seiner Tasche.
Nora atmet ein.
Nora atmet aus.
Dann geht sie los.
Sie will nicht auffallen.
Sie will ruhig wirken.
Sie will so tun, als ob sie oft im Badeanzug aus dem Wasser kommt.
Geschafft.
Nora ist bei ihrem Handtuch.
Der Mann ist ein paar Meter von ihr entfernt.
Nora wickelt das Handtuch um sich herum.
Der Mann schaut zu ihr.
„Sie sind aber mutig“, sagt er zu Nora.
„Ich bewundere Sie.
Es ist toll, dass Sie sich in dieses kalte Wasser trauen.“
Er lächelt.
„Mutig?“, fragt Nora.
Der Mann nickt.
Nora spürt, dass ihre Wangen heiß werden.
Vielleicht werden sie auch rot.
„Es wird schon wärmer“, sagt sie.
Der Mann nickt.
„Darf ich Ihnen trotzdem einen heißen Tee anbieten?“, fragt der Mann.
Nora nickt und sagt:
„Aber ich muss mich zuerst anziehen.“
Nora geht zu der kleinen Umkleide-Hütte.
Sie trocknet sich ab.
Sie zieht sich an.
Sie denkt: Der Mann ist nett.
Sie denkt: Er hat mich gar nicht komisch angeschaut.
Ein paar Minuten später sitzt Nora neben dem Mann im Gras.
Der Tee wärmt sie von innen.
Der Blick des Mannes wärmt sie von außen.
Seine Augen sind blau.
So blau wie der Himmel.
Und die Augen sehen sie an.
Nur sie.
Nora lächelt.
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