Heimat Vorlesen

26. Jan 2024Sabine Tollkühn-Klein
Die Kunst der Einfachheit 2023 - Sitmmt mit ab!, Bild: Hardy Kuttner

Hallo, mein Name ist Ruth.
Ich wurde im Jahr 1929 in Westfalen geboren.
Wir waren eine große Familie.
In unserem Haus lebten Oma und Opa,
Mutter und Vater,
drei Jungen und drei Mädchen.
Ich war das fünfte Kind.

Zu Hause haben wir einen niederdeutschen Dialekt gesprochen.
Ein Mix aus Deutsch und Niederländisch.
Meine Großmutter kam aus den Niederlanden.
Für die Liebe hatte sie ihre Heimat verlassen.
Ihre neue Heimat war bei Großvater in Deutschland.
Oma und Opa waren ein schönes Paar.
Ihre Liebe war grenzenlos.

Oft sagte meine Großmutter: „Egal woher wir kommen und wer wir sind.
Heimat ist dort wo die Familie lebt.“

Wir wurden nicht streng erzogen.
Religion spielte in meiner Familie keine Rolle.
Wir waren keine gläubigen Juden.
Egal ob Christ, Moslem oder Jude.
Bei uns waren alle Menschen willkommen.

Meiner Mutter war die Bildung ihrer Kinder sehr wichtig.
Wir lernten in jüdischen Schulen.
Auf anderen Schulen wurden wir gehänselt und waren nicht erwünscht.
Die Eltern meiner Freundin waren strikt dagegen, dass ihre Tochter mit einer Jüdin spielte.
Warum ihre Eltern so waren, konnte ich nie verstehen.
Es war toll, wenn wir bei uns zu Hause heimlich spielen konnten.

Die Stimmung gegen Juden wurde damals immer schlechter.
Wir wurden überall benachteiligt.
Mit dem Finger wurde auf uns gezeigt.
Es war ein Tag im November als meine Kindheit zu Ende ging.
Ich habe sehen müssen, wie Menschen unser Haus ausgeraubt haben.
Des Weiteren wurden alle Fensterscheiben eingeschlagen.
Unsere Bücher und Kunst sind in einem großen Feuer verbrannt worden.
Mein Spielzeug wurde verbrannt.
Diese Menschen waren schamlos.
Ich habe geweint.
Wir konnten uns nicht wehren.
Wir waren sprachlos und machtlos.
Alle hatten große Angst.
Hilfe bekamen wir nicht.
Manche Menschen haben geschrien: „Ihr Juden-Schweine.“
Synagogen und jüdische Einrichtungen brannten lichterloh in ganz Deutschland.
In dieser Nacht wurden wir heimatlos.

Heute kennen wir diese schrecklichen Taten unter den Namen Novemberpogrome von 1938.

Der zweite Weltkrieg ab dem Jahr 1939 war der nächste Schock für unsere Familie.
Nun mussten wir Deutschland schnell verlassen.
Juden wurden verfolgt und verschleppt.
Unser Ziel war Omas alte Heimat.

Ein Jahr haben wir in den Niederlanden an der Nordsee gelebt.
Dort haben wir am Strand Sandburgen bauen können.
Wir Kinder konnten im Meer schwimmen.
Mit anderen Kindern haben wir spielen können.
Das Toben und Balgen war meine neue Freiheit.
Diese ruhige Zeit habe ich genossen.
Eine neue Heimat haben wir dort jedoch nicht finden können.
Wir Juden wurden nun in ganz Europa verfolgt und verschleppt.
In Omas alter Heimat waren wir auch nicht mehr sicher.
Eine Lösung musste schnell gefunden werden.
Es war klar, dass wir Europa verlassen müssen.
Oma und Opa wollten die Nordsee jedoch nicht verlassen.
Wir haben uns nie mehr gesehen.

Die Flucht aus Europa hatte meiner Familie viel Geld gekostet.
Wir mussten lange Strecken laufen und verschiedene Grenzen überwinden.
Wir hatten oft Hunger, Durst und wurden krank.
Wir waren traurig und wütend.
Mit einem Schiff überquerten wir den Atlantik.
In dieser Zeit habe ich oft von einer besseren Welt geträumt.
Ich bin mit Peter Pan davon geflogen.
Mit Moby Dick habe ich die Unterwasser Welt erforscht.
Die Sterne am Nachthimmel habe ich gezählt.
Meine älteren Geschwister gaben mir Sicherheit und Schutz.
Mit meiner Mutter konnte ich schmusen und ihre Wärme spüren.
Mit viel Hoffnung haben wir Amerika erreicht.
Ein Onkel hat uns abgeholt.
New York hat uns alle begrüßt.
Schnell hatten wir neue Ausweise mit neuen Namen.
Wir wurden Christen und wurden getauft.
Im Herzen blieben wir jedoch Juden.
Nun hatte meine Familie ein Geheimnis.

Unser Vater sagte: „Nun kann uns keiner mehr Juden-Schweine nennen.“

Das erste Jahr in Amerika war schwierig.
Wir lebten in einfachen Verhältnissen.
Meine Mutter hatte als Musik-Lehrerin Geld verdient.
Unser Vater war im Krankenhaus tätig.
Nun konnten wir zur Schule gehen ohne gehänselt zu werden.
Niemand hat mit dem Finger auf uns gezeigt.
Diese Freiheit haben wir in Deutschland nicht gekannt.
Leider war unsere Mutter oft traurig.
Ihr fehlte die Heimat.
Sie wurde krank.

Nach dem Krieg im Jahr 1945 hatten meine Eltern eine Entscheidung getroffen.
Sie wollten zurück nach Deutschland.
Zwei Jahre später sind wir von Amerika nach Deutschland geflogen.
Im Flugzeug konnte ich nicht auf meinem Platz sitzen bleiben.
Ständig musste ich zur Toilette, so unruhig war ich.
Ich durfte sogar zum Kapitän nach vorne ins Flugzeug.
Nach der Landung in Deutschland wurden wir von einer Tante abgeholt.
Es war eine große Freude sie zu sehen, denn sie hatte den Krieg überlebt.
Wenig später wollten wir unser altes Haus sehen.
Leider war unser Haus dem Erdboden gleich.

Eine neue Heimat haben meine Eltern in Nordrhein-Westfalen gefunden.
Mein Vater hatte eine Arbeitsstelle im Katholischen Krankenhaus bekommen.
Seltsam, wenn man bedenkt, dass er früher Jude war.
Sein Geheimnis kannte keiner der Kollegen.

Meine Mutter hatte an einer Grundschule arbeiten können.
Wir haben das Wunder der Wirtschaft erleben dürfen.
Die Geschäfte waren voller Waren.
Ein roter Käfer war das erste Auto meiner Eltern.
Ein großer Wunsch meiner Mutter war ein Fernsehgerät.
Wir konnten uns dann täglich die Nachrichten anschauen.
Auch eine Waschmaschine und der elektrische Herd haben das Leben erleichtert.

Selbst heute noch lebt ein Teil meiner Geschwister in Amerika.
Sie wollten nicht zurück nach Deutschland.
Ich habe meine Heimat in Nordrhein-Westfalen gefunden, in der Nähe meiner Eltern.
Nach meiner Ausbildung war ich auch im sozialen Dienst tätig.
Ich habe einen netten Mann heiraten dürfen.
Mein Ehemann wollte gerne in einer Kirche heiraten.
Diesen Wunsch konnte ich ihm jedoch nicht erfüllen.
Denn in meinem Herzen bin ich Jüdin geblieben.
So sollte es auch bleiben.

Nun bin ich eine alte Frau und habe mein Familien-Geheimnis gelüftet.
Des Weiteren habe ich mit mir und meiner Heimat Frieden geschlossen.

Vor langer Zeit sagte meine Großmutter: „Egal woher wir kommen und wer wir sind.
Heimat ist dort wo die Familie lebt!“

Gefördert von

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412 Personen gefällt das

24Kommentare

  • Sabrina
    26.01.2024 09:29 Uhr

    👍

  • Lissy
    26.01.2024 09:33 Uhr

    Dankeschön

  • Simone
    26.01.2024 10:17 Uhr

    Emotionaler Text und schwer nachzuempfinden wie man sich als Vertriebener fühlt. Hat mich sehr berührt. Danke dafür!

  • Tom
    26.01.2024 12:40 Uhr

    gut geschrieben

  • Thomas Günter
    26.01.2024 12:55 Uhr

    Klasse

  • Thomas
    26.01.2024 13:51 Uhr

    Erinnerungskultur in einfacher Sprache geschrieben

  • Erna
    26.01.2024 14:02 Uhr

    🫶

  • Miriam
    26.01.2024 17:08 Uhr

    Sehr schön geschrieben 🥰

  • Erna
    26.01.2024 17:43 Uhr

    Erinnerungskultur einfach geschrieben

  • Volkert
    27.01.2024 08:00 Uhr

    Ein guter, wichtiger und beeindruckender Text.

  • Caruso
    27.01.2024 21:19 Uhr

    Gut geschrieben

  • Emma
    28.01.2024 13:45 Uhr

    ♥️

  • Eden
    29.01.2024 22:54 Uhr

    👍

  • M.
    30.01.2024 15:12 Uhr

    👍

  • Uwe
    31.01.2024 12:13 Uhr

    👍

  • Rosa
    02.02.2024 08:58 Uhr

    🙏

  • Anneliese
    02.02.2024 15:30 Uhr

    Sehr schön ♥️👍🏻

  • Paul
    02.02.2024 20:06 Uhr

    Hast du gut geschrieben Sabine…danke…🤩

  • Kurt
    03.02.2024 08:26 Uhr

    🙏❤️👍

  • Gerd
    07.02.2024 14:54 Uhr

    🙏

  • Miro
    08.02.2024 22:01 Uhr

    Traurige Geschichte

  • Hein
    10.02.2024 19:10 Uhr

    Danke

  • Sabine
    12.02.2024 18:55 Uhr

    Gefällt mir sehr gut ! 💕

  • Sabine Hö
    12.02.2024 19:06 Uhr

    Sehr schön geschrieben 💕

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