Die Sache mit der Heimat Vorlesen

10. Jan 2024Ulrich Huse
Die Kunst der Einfachheit 2023 - Stimmt mit ab! Bild: Hardy Kuttner

Kira mag ihren Opa. Er kann so wunderbare Geschichten erzählen. Und ganz toll vorlesen kann er auch. Und wenn sie ihn etwas fragt, weiß er immer eine Antwort. Eine Antwort, die sie versteht. Auch Mama hat auf alles eine Antwort. Aber Kira findet, dass Mamas Antworten manchmal nicht zu ihren Fragen passen.

Außerdem riecht ihr Opa besonders. Ganz anders als Papa. »Das kommt von meinem Rasierwasser«, hat Opa gesagt. „Es hat einen englischen Namen. Auf Deutsch bedeutet er Altes Gewürz.“

Kira wollte das erst gar nicht glauben: Niemand schüttet sich doch Pfeffer oder Paprika ins Gesicht. Als sie ihm das erzählte, musste Opa laut lachen. Dann hat er ihr erklärt, dass sein Rasierwasser nur nach Gewürzen riecht.

„Schließ mal die Augen und schnuppere an meinem Hals. Na, kannst du etwas erkennen?“

Kira versuchte es. Sie mochte diesen Duft. Den Opa-Duft, wie sie ihn nannte. Aber Gewürze roch sie keine. Sie wusste auch gar nicht, wie zum Beispiel Pfeffer riecht. Einmal hat sie am Pfefferstreuer gerochen – und fürchterlich niesen müssen. Seitdem ist sie vorsichtig.

„Lass deiner Nase Zeit“, sagte Opa. „Sie ist noch klein; sie muss erst lernen, Gerüche zu unterscheiden.“

Tatsächlich hatte Kira plötzlich den Geruch von Tante Gretas Weihnachtskuchen in der Nase: „Das riecht nach Zimt“, rief sie. Dann musste sie an die Vanillesoße denken, die Mama immer zum Pudding kocht.

„Ist Vanille auch ein Gewürz?“, fragte sie.

„Natürlich“, antwortete ihr Opa. „Siehst du: Jetzt hast du schon zwei Gewürze erkannt. Du hast eine feine Nase. Die lernt schnell.“

„Eine Nase kann doch nicht lernen.“ Kira kicherte. Aber der Opa nickte mit dem Kopf:

„Doch, das kann sie. Du wirst sehen: Sie wird immer besser werden – du musst ihr nur Zeit geben. Vielleicht lernt sie dann sogar, Angst oder Freude zu riechen …“

Kira schaute ihren Opa lange an. Gewürze, das stimmte, die haben wirklich einen eigenen Geruch. Das hatte sie ja gerade selber herausgefunden. Aber Angst oder Freude? Wonach sollten die denn riechen? Vielleicht nach Gurkenwasser oder Himbeermarmelade?

Kira ist sieben Jahre alt. Seit letztem Sommer geht sie zur Schule. In die erste Klasse. Mit Bruno und Fenja war sie vorher schon in einer Hortgruppe. Deshalb hat sie sich gleich neben Fenja gesetzt. Die ist ganz in Ordnung. Inzwischen versteht sie sich aber auch mit einigen anderen Mädchen gut. Und mit Noah.

Noah ist anders als die anderen Jungen. Nicht so wild und so laut. Sein Papa kommt von weit her. Deshalb hat Noah auch eine dunklere Haut als alle anderen. Aber er spricht genauso wie Kira. Wenn er spricht. Meistens sagt Noah nämlich nichts. Nur wenn Frau Griffel, die Lehrerin, etwas fragt, antwortet er. Leise, aber deutlich. Noah hat eine schöne Stimme, findet Kira.

Obwohl Noah nicht viel redet, mögen ihn die anderen Jungen. Er ist nämlich ein guter Fußballer. Schnell und wendig. Mit dem Ball umspielt er oft gleich mehrere Gegner. Nur zum Toreschießen fehlt ihm noch etwas Kraft. Trotzdem haben ihn alle gern in ihrer Mannschaft. Wenn kein Fußball gespielt wird, sitzt Noah aber oft abseits und träumt vor sich hin.

Gestern hat Kira sich getraut. Hat sich auf dem Schulhof einfach neben ihn gesetzt und gefragt: „Wovon träumst du?“

Er hat sie mit seinen dunkelbraunen Augen überrascht angeschaut – und dann geantwortet: „Von Sansibar.“

„San-si-bar? Was ist das?”

„Eine Insel vor Afrika. Mein Papa kommt von dort.“

„Afrika ist aber ziemlich weit weg, oder?“

„Das stimmt. Mein Papa hat trotzdem versprochen, dass er mit mir irgendwann dorthin fliegt. Natürlich zusammen mit Mama und meiner Schwester Lily.“

Kira konnte sich nicht vorstellen, nach Afrika zu fliegen. Afrika, da gibt es doch Löwen, Elefanten und Schlangen. Also fragte sie weiter. „Hast du denn gar keine Angst, in so ein fernes Land zu fahren?“

Aber Noah schaute sie kein bisschen ängstlich an. Fröhlich erklärte er:

„Nein, überhaupt nicht. Es ist doch die Heimat meines Papas – und meine …“

Dienstags und donnerstags muss Mama arbeiten. Dann geht Kira nach dem Unterricht immer zu ihrem Opa. Der wohnt ganz nah bei der Schule. Sie muss nur die Straße bis ans Ende laufen, dann rechts in die Sackgasse einbiegen – schon steht sie vor Opas kleinem Häuschen.

Opa freut sich immer, wenn Kira kommt. Er kocht dann für sie beide Mittagessen: dienstags das, worauf er Lust hat, donnerstags das, was Kira sich wünscht: Spaghetti mit Tomatensoße, Fischstäbchen oder Pfannkuchen. Beim Essen erzählt sie ihm dann, was sie in der Schule erlebt hat. Er hört aufmerksam zu und möchte alles ganz genau wissen.

„Weißt du“, hat er Kira erklärt, „meine Schulzeit liegt schon sooo lange zurück. Da habe ich ganz vergessen, wie lustig sie war. Wenn du mir dann von deiner Klasse erzählst, erinnere ich mich wieder an früher. Und deine Lehrerin scheint mir genauso nett zu sein wie meine damals. Sie hieß Frau Lachmann. Ich mochte sie, weil sie nie geschrien hat. Aber viel gelacht – kein Wunder bei diesem Namen.“

Heute allerdings kommt das Gespräch zwischen Kira und ihrem Opa nicht richtig in Gang. Kira stochert in ihrem Aprikosenreis herum; mit ihren Gedanken scheint sie ganz woanders zu sein. Schließlich legt Opa seine Gabel zur Seite und fragt ganz direkt: „Mädchen, was ist los mit dir? Ist was Unangenehmes passiert?“

Kira schüttelt nur mit dem Kopf, ohne ihren Opa anzuschauen. Der lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor seiner Brust. Er lächelt sie an, sagt aber nichts. Eine Weile schweigen beide. Dann blickt Kira auf und fragt: „Opa, was ist deine Heimat?“

Der alte Mann blickt sie erstaunt an, dann erklärt er: „Das ist eine schwierige Frage. Um sie richtig beantworten zu können, muss ich wissen, wie du darauf kommst.“

Also erzählt ihm Kira von Noah, dessen Vater und Sansibar. Die Sätze sprudeln nur so aus ihr heraus. „San-si-bar ist eine Insel vor Afrika. Und die Heimat von Noahs Papa. Deshalb glaubt Noah, dass es auch seine Heimat ist. Aber wie kann das sein? Er war doch noch nie dort. Mama hat gesagt, Heimat ist dort, wo jemand zu Hause ist. Wir sind hier in Berghofen zu Hause. Und Noah doch auch. Oder?“

Seit gestern hat sie ständig darüber nachgedacht. Jetzt hofft sie, dass der Opa ihr alles erklären kann.

„Da hat die Mama schon recht. Trotzdem fällt es nicht allen leicht zu sagen, wo ihre Heimat ist. – Aber ganz wichtig: Um schwierige Dinge verstehen zu können, darf der Magen nicht knurren. Das lenkt sonst vom Denken ab. Lass uns deshalb erst den leckeren Aprikosenreis aufessen. Danach werde ich dir die Sache mit der Heimat erklären.“

Kira ist froh, dass der Opa ihre Frage verstanden hat. Eigentlich hat sie auch noch Hunger. Also essen die beiden erst einmal in Ruhe zu Ende. Dann räumen sie den Tisch ab und setzen sich zusammen auf das alte Sofa: Opa mit einer Tasse Kaffee vor sich, Kira mit einem Schoko-Eis am Stiel, das der Opa noch im Eisfach entdeckt hat.

„Natürlich bist du hier in Berghofen zu Hause: Hier bist du geboren, hier hast du dein ganzes bisheriges Leben verbracht. Deine Mama und dein Papa kommen ebenfalls von hier. Sie sind hier zur Schule gegangen und haben nie weiter als dreißig Kilometer weg gewohnt. Berghofen ist eure Heimat, das ist mal ganz sicher.“

Kira schaut ihren Opa zufrieden an. Wie schnell er mit seinen Erklärungen ihre Unsicherheit verscheucht hat. Sie drückt sich fest an seine Schulter.

„Weißt du, wo dein Freund Noah geboren wurde?“

„Ja. In einem Flüchtlingslager, hat er gesagt. Sein Papa hat dort seine Mama kennengelernt. Und als Noah noch ganz klein war, sind sie nach Berghofen gezogen. Lily, seine kleine Schwester, ist erst hier auf die Welt gekommen.“

„Dann würde ich doch sagen: Noah und Lily sind auch in Berghofen zu Hause. So wie du. Aber die Sache mit der Heimat ist bei ihnen natürlich komplizierter als bei dir.“

Opa trinkt den letzten Schluck Kaffee, dann stellt er seine Tasse auf den kleinen Tisch neben sich.

„Ich werde dir mal meine Geschichte erzählen. Vielleicht hilft das, deine Frage zu klären. Du weißt sicher nicht, wo ich geboren wurde. In Neustettin, einer kleinen Stadt in Hinterpommern. Das liegt im Osten und gehört heute zu Polen. Meine Mutter war damals auf der Flucht. Es war am Ende des schrecklichen Weltkriegs, in dem viele Menschen ihr Zuhause verloren haben.

Sie war nur wenige Wochen in dieser Stadt: Als sie sich von der Geburt erholt hatte, ist sie so schnell wie möglich weiter nach Westen gezogen. Mit mir, einem kleinen Säugling, vor der Brust. Und mit meinem Bruder Paul in einem Handwagen. Paul war damals gerade zwei Jahre alt.

Ich bin nie in meinem Geburtsort gewesen. Ich habe auch keine Erinnerung daran. Aber vor vielen Jahren sind wir zu dritt in das Dorf gefahren, aus dem unsere Mutter stammt. Sie hat uns alles gezeigt: Wo sie als kleines Mädchen gespielt hat. Die Schule, in die sie gegangen ist. Die Felder, auf denen sie ihren Eltern bei der Tabakernte helfen musste. Sie hat auch viele Geschichten über ihre Heimat erzählt. Ein paar habe ich inzwischen vergessen, die meisten sind aber immer noch in meinem Kopf.

Als du mich gefragt hast, wo meine Heimat ist, musste ich gleich an das Dorf meiner Mutter denken. Ist das nicht komisch? Ich war ein einziges Mal dort, zwei Tage nur. Und da war ich schon ein erwachsener Mann. Trotzdem fühlt es sich so an, als wäre dieses Dorf die Heimat meines Herzens.

Seit fast vierzig Jahren wohne ich jetzt hier in Berghofen. Das ist jetzt mein Zuhause. Hier kenne ich jede Straße, weiß, wer wo wohnt. Aber Heimat, Heimat ist das für mich nicht. – Verstehst du, was ich meine?“

Opa blickt Kira erwartungsvoll an. Die muss erst einmal ihre Gedanken ordnen. Es ist schon verwirrend, was sie da gerade gehört hat. Trotzdem hat sie das Gefühl, etwas zu verstehen. Sie versucht, Worte zu finden, die beschreiben, was sie denkt.

„Nein – oder: Ja, vielleicht doch. Berghofen ist dein Zuhause, weil du hier wohnst. Und wir in deiner Nähe sind. Aber da ist noch etwas, wovon du manchmal träumst. So wie Noah von San-si-bar.“

„Genau. Deshalb ist Sansibar, diese Insel vor Afrika, auch die Heimat in Noahs Herzen. Ein Ort, den er nicht kennt. Und der ihm trotzdem irgendwie vertraut ist. Nach dem er sich sehnt und von dem er träumt. Und den er bestimmt einmal besuchen wird, so wie Paul und ich mit unserer Mutter an ihren Geburtsort gefahren sind.“

„Opa? Ist Heimat dann nur ein Traum?“ In Kiras Kopf drehen sich die Gedanken im Kreis. Ihr ist, als wäre sie gerade Karussell gefahren.

„Nein, Kira. Kein Traum. Eher ein schönes, wohliges Gefühl, das jeder Mensch braucht. So wie ein Zuhause. Ein Zuhause für seine Gedanken. – Doch genug geredet. Ich habe Durst. Soll ich uns vielleicht eine Erdbeermilch machen?“

„Ja, gern! Ich helfe dir dabei.“ Kira springt auf. Die Sache mit der Heimat ist wirklich nicht einfach. Darüber muss sie noch einmal in Ruhe nachdenken. Aber schön, dass sie ihren Opa hat, mit dem sie über alles sprechen kann.

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