Die Brieftasche - Teil 3 Vorlesen

15. Apr 2022Angelika Pohl
An der Bushaltestelle steht eine Bank. Darauf liegt eine rote Brieftasche.

Teil 3

Frau Köksal erzählt:

Abgegeben

Als ich jung war,
habe ich einmal 50 Mark gefunden.
Früher hieß das Geld „Mark“.
„Euro“ gab es damals noch nicht.
Das ist alles lange her.

Damals habe ich mit anderen jungen Leuten zusammen·gewohnt.
Wir haben uns eine Wohnung geteilt.
Wir hatten alle kein Geld.
Wir waren alle in der Lehre oder studierten.
Natürlich hatten wir keine Maschinen.
Keine Maschine für Kaffee, keine fürs Geschirr.
Auch keine Wasch·maschine.
Wenn wir waschen wollten,
dann sind wir in den Wasch·salon gegangen.

Ich habe immer erst in die Wasch·maschine geguckt.
Ich habe geguckt,
ob sie leer ist und sauber.
Und da klebte er.
Da klebte der 50‐Mark‐Schein.
Er klebte innen ganz glatt an der Trommel.
Er war noch nass.

50 Mark.
Das war für mich damals sehr viel Geld.
Ich habe das Geld einfach behalten.
Es war wie ein weicher, warmer Regen.

Warum ich das erzähle?
Weil ich gerade eine Brief·tasche gefunden habe.
Ich traue mich gar nicht,
hinein·zu·sehen.

Einen warmen Geld·regen,
den wünsche ich mir heute wieder.
Denn ich hatte viel Pech in letzter Zeit:
Fahrrad geklaut.
Handy verloren.
Brille runter·gefallen und kaputt.

Und vor ein paar Tagen die Kündigung der Wohnung.
Wegen Eigen·bedarf.
Der Vermieter will selber in der Wohnung wohnen.
Das heißt:
Ich muss umziehen.
Aber ein Umzug ist teuer.

Ein warmer Geld·regen.
Das wäre sooo schön!

Aber ich tue es nicht.
Ich sehe nicht in die Brief·tasche.
Sie bleibt zu.
Was ich nicht weiß,
macht mich nicht heiß.

Vielleicht sind ja auch nur Fotos, Karten und Krams drin.
Heutzutage hat keiner mehr viel Bargeld bei sich.
Viele bezahlen nur noch mit Karte.
Seit Corona sowieso.

Ich sehe nicht in die Brief·tasche,
dann komme ich nicht in Versuchung.
Ich gehe jetzt sofort ins Fund·büro.
Ich kenne den Weg auswendig.
Ich war bestimmt schon 7-mal da.
Ich frage immer nach meinem Rad und meinem Handy.
Ich hoffe immer,
irgend·jemand hat es im Fund·büro abgegeben.

Die Frau im Fund·büro freut sich,
als sie mich sieht.
Die letzten Male war sie eher genervt.
Sie hat dann immer gesagt:
„Ich rufe Sie an,
wenn Ihre Sachen auftauchen.
Sie müssen nicht herkommen!“

Dieses Mal sagt sie:
„Wie schön, Frau Köksal,
dass Sie kommen.
Ich wollte Sie gerade anrufen.“

Mein Fahrrad ist gefunden worden.
Und es ist noch heil.
Ich freue mich total.

Beinahe vergesse ich die Brief·tasche.
Deshalb bin ich ja hier.
Ich lege die Brief·tasche auf den Tresen.
Ich sage:
„Hab ich an der Bus·halte·stelle gefunden.
In der Nähe vom Wochen·markt.“

Die Frau holt ein Formular.
Sie schreibt meinen Namen auf.
Schreibt,
wo ich die Brief·tasche gefunden habe.
Dann öffnet sie die Brief·tasche.
Sie zählt das Geld vor meinen Augen.
„Das ist Vorschrift“,
sagt sie.
„Wegen Finder·lohn.“

Es sind nur 20 Euro in der Brief·tasche.
Ich sage,
sie soll den Finder·lohn spenden.
Dabei zeige ich auf die Spenden·dose.
„Das dürfen wir nicht.
Die Vorschriften, die Vorschriften …!“
Die Frau vom Fund·büro lacht.

Wir verabschieden uns.
Ich radele nach Hause.
Erleichtert.
Beschwingt.
Mit neuem Mut und guter Laune.
Es wird schon alles gut werden.

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