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03. Jun 2022Katharina Gernet
Katharina Gernet

Wie ich meine Frau zum zweiten Mal heiratete

von Katharina Gernet

Im letzten Sommer hat es in Deutschland oft geregnet.
Und der Regen war ungewöhnlich stark.
Das Wasser ist in den Flüssen immer höher gestiegen.
In manchen Gebieten kam es zu schweren Unglücken.
Denn das Wasser ist über die Flussufer getreten.
Und ganze Orte wurden überschwemmt.

Aber ein Mann hat ein kleines Wunder erlebt.
Sein Bericht kam in den Nachrichten.
Aus dem Bericht habe ich eine Geschichte gemacht.
Ein paar Dinge in der Geschichte sind erfunden.
Aber das Wunder ist wirklich passiert.
Der Mann erzählt.
Seine Geschichte geht so:

* * *

Vor 33 Jahren haben Tanja und ich uns kennen gelernt.
Wir waren in der Ausbildung.
Noch während der Ausbildung haben wir geheiratet.
Ich schaue mir manchmal die Fotos von unserer Hochzeit an.
Gerne erinnere ich mich an das Fest.

Hier im Tal habe ich dann Arbeit bekommen.
Auch Tanja hat Arbeit gefunden.
Deshalb sind wir hergezogen.
Seitdem wohnen wir in dem Haus.
Wir bewohnen das untere Stockwerk.

Hinter dem Haus gibt es einen kleinen Garten.
Tanja verbringt dort viel Zeit.
Sie sagt:
Die Arbeit im Garten macht mir Freude.
Dabei kommen mir oft gute Gedanken.

Ich selbst habe im Keller eine Werkstatt.
In der Werkstatt baue ich kleine Segelschiffe.
Ich nehme berühmte Schiffe als Vorbilder.
Beim Bauen träume ich vom Meer.

Im Sommer ist es in unserem Tal sehr schön.
Man kann mit dem Rad am Fluss entlang fahren.
Oder hinauf in die Weinberge wandern.
Abends grillen wir oft im Garten.
Oder wir spielen Schach im Park.
Mit großen Figuren.

* * *

In diesem Jahr ist der Sommer ganz verregnet.
Auch heute schüttet es.
Die Wassertropfen schlagen gegen die Fensterscheiben.
Es regnet ohne Pause.

Wir gehen früh schlafen.
Ich beende den Tag wie immer:
Ich ziehe meinen Ehering aus.
Und ich lege den Ring auf den Nachtkasten bei meinem Bett.
Neben das Foto von Tanja.
Dabei wünsche ich mir:
Hoffentlich ist der Regen morgen endlich vorbei.

In der Nacht weckt mich ein seltsames Rauschen.
Das Rauschen kommt von draußen.
Ich schaue aus dem Fenster.

Mir fällt auf:
Draußen ist es stockdunkel.
Die Straßenlampen leuchten gar nicht.
Ist denn der Strom ausgefallen?
Nur der Mond scheint hell.

Und dann sehe ich etwas Sonderbares.
Ich denke:
Das kann nicht sein.
Sind meine Augen vielleicht nicht in Ordnung?

Ich schaue noch einmal genauer hin.
Aber ich sehe richtig:
Zwischen den Häusern rundherum fließt WASSER!
Das Mondlicht lässt das Wasser glänzen.
Das Wasser fließt rasend schnell dahin.
Es wirbelt und sprudelt wild.

Der Fluss muss über seine Ufer getreten sein.
Und nun flutet das Wasser durch die Stadt.
Es reißt auf seinem Weg Dinge mit sich:
Äste.
Bretter.
Gartenmöbel.
Und jede Menge Abfall.

In meiner Brust zieht sich alles zusammen.
In meinem Kopf hämmert es.
Mir ist eiskalt und glühend heiß zugleich.
Ich muss Tanja wecken.
Wir müssen raus hier.
Sofort!

Irgendetwas stößt mit Wucht von außen an die Hauswand.
Wir hasten vor die Haustür.
Auf der Straße stehen wir bis zu den Waden im Wasser.
Die Strömung reißt an unseren Beinen.
Durch das Rauschen hören wir den Alarm von Sirenen.

Tanja und ich fassen uns bei den Händen.
Wir rennen so schnell wir können durch die Dunkelheit.
Es regnet noch immer wie aus Eimern.

Wir folgen der großen Straße.
Die Straße führt aus der Stadt.
Weg vom Fluss.
Wir rennen um unser Leben.

* * *

Am Stadtrand bleiben wir stehen.
Wir haben nichts bei uns.
Kein Geld.
Kein Telefon.
Keine Ausweise.
Nur die Kleider, die wir tragen.
Wir sind nass von oben bis unten.
Das Wasser kommt hinter uns her.

Wohin jetzt?
Neben uns stehen andere Leute.
Auch sie versuchen sich zu retten.
Da ruft eine Stimme:
Los, hierher!
Rauf auf das Dach!

Rechts neben uns steht ein Haus.
Es ist drei Stockwerke hoch.
In der Haustür steht ein Mann.
Er winkt uns mit einer Taschenlampe.
Dann leuchtet er zum Dach hinauf.
Von dort schauen Leute zu uns herunter.

Wir rennen zu dem Mann.
Er führt uns durch das Haus hinauf.
Dann stehen auch wir auf dem Dach.
Jemand reicht uns einen Schirm.
Jemand anderes gibt uns eine Decke.
Wir verbringen die Nacht dort oben.

Auf dem Dach sind wir insgesamt zwölf Menschen.
Die meisten sind starr vor Schreck.
Sie schweigen.
Einige weinen immer wieder.
Ein paar reden die ganze Zeit.
Sie machen sich gegenseitig Mut.

* * *

Zwei Tage später:
Das Wasser hat sich aus der Stadt zurückgezogen.
Über allem liegt eine dicke Schicht aus Schlamm.
Der Schlamm ist braun und schwer.
Die Luft riecht faulig.
Wind verbreitet den Geruch von Benzin und Öl.

Viele Menschen laufen auf den Straßen herum.
Manche suchen nach verlorenen Dingen.
Manche räumen auf.
Andere schauen einfach nur.

Ich gehe mit Tanja in unsere Wohnung.
Alles darin ist zerstört.
Nur wenige Dinge stehen noch an ihrem alten Platz.
Es gibt keinen Strom.
Und das Wasser aus den Leitungen ist verschmutzt.
Wir können nicht mit unseren Verwandten telefonieren.
Wir können keine Nachrichten empfangen.

Wir können nicht kochen.
Nicht duschen.
Wir können auch nicht einfach wegfahren.
Die Flut hat unser Auto zerstört.

Für alles brauchen wir jetzt Hilfe:
Wir brauchen Kleidung.
Essen.
Einen Ort zum Waschen.
Und einen Ort zum Schlafen.
Ich bin verzweifelt.
Wie sollen wir weiterleben?

Ich fange an zu arbeiten.
Ich MUSS arbeiten.
Sonst werde ich verrückt.
Ich arbeite gegen meine Angst an.
Gegen die Verwüstung.
Ich sehe Tanja an:
Ihr geht es genauso.

Wir schleppen alles aus unserer Wohnung.
Möbel.
Kleidung.
Haushaltsgeräte.
Nichts davon lässt sich mehr gebrauchen.
Wir stapeln die Sachen vor dem Haus.
Wie nackt stehen die Sachen auf der offenen Straße.

Danach putzen wir den Schlamm aus der Wohnung.
Wir arbeiten ohne Pause.
Zum Nachdenken ist keine Ruhe.
Zum Weinen ist keine Zeit.

* * *

Ich laufe aus dem Haus auf die Straße.
Hunderte Male.
Jedes Mal bringe ich schmutziges Putzwasser hinaus.

Gerade will ich wieder Putzwasser aus dem Eimer kippen.
Da sehe ich vor meinen Füßen:
Etwas blinkt im Schlamm.
Es ist klein und rund.
Und es glänzt golden.

Ich fische das Ding aus dem Schlamm.
Es ist ein Ring.
Ich schaue den Ring genauer an.
Er kommt mir vertraut vor.
Das wird doch nicht etwa …?
Nein, das kann gar nicht sein.
Das ist vollkommen unmöglich.

Ich ziehe meinen schmutzigen Arbeits-Handschuh aus.
Ich reibe den Ring sauber.
Und ich lese die Inschrift.

Er ist es.
Er ist es wirklich.
Das ist MEIN Ehering.
Ich habe meinen Ring wiedergefunden.
Mitten in einem Meer aus Müll und Schmutz.
Wie oft bin ich während der Räumarbeiten schon auf ihn getreten?
Und ich habe ihn nicht gesehen.

Ich rufe nach Tanja.
Nein, ich BRÜLLE nach ihr.
Aus vollem Hals.
Ich schreie ihren Namen.

Tanja kommt gerannt.
Erschrocken fragt sie:
Um Himmels willen, was ist los?
Hast du dich verletzt?

* * *

Wir stehen auf der Straße im Schlamm.
Unsere Hosen schlammig.
Unsere Hemden schlammig.
Die Haare wirr.
Verschwitzt.
Erschöpft.

Ich kann nicht sprechen
Stumm halte ich Tanja den Ring hin.
Sie nimmt den Ring.
Sie betrachtet ihn.
Dann liest sie die Inschrift.
Vor Überraschung bleibt ihr der Mund offen stehen.

Ich ziehe auch den anderen Handschuh aus.
Ich halte Tanja meine Hand hin.
Meine Hand zittert.
Ich zittere am ganzen Körper.

Tanja versteht sofort.
Sie lächelt.
Sie steckt mir den Ring an den Finger.
Zum zweiten Mal.
So wie bei unserer ersten Hochzeit.
Damals war der Raum mit Blumen geschmückt.
Dieses Mal umgeben uns Dreck und Gestank.
Und dieses Mal kann ich die Tränen nicht zurückhalten.

Tanja und ich fallen uns in die Arme.
Und wir weinen beide.
Wir können lange nicht aufhören zu weinen.

* * *

Ich danke dem Himmel.
Dafür dass wir noch leben.
Dafür dass ich diese wunderbare Frau habe.

Unser altes Leben ist für immer verschwunden.
Von der Flut weggerissen und zerstört.
Unsere Sachen für den Haushalt.
Unsere Kleider.
Unsere Fotobücher mit allen Erinnerungen.
Tanjas Garten.
Meine Schiffe.
Unsere Mitbringsel von schönen Urlaubsreisen.
Geschenke von Verwandten und Freunden.
Unser Auto.
Und die vielen anderen Sachen.

Es ist alles weg.
Aber wir beide sind noch da.
Und wir haben uns gegenseitig.
Wir werden unsere Wohnung wieder in Ordnung bringen.
Wir werden aus diesem Schlamm herauskommen.
Und meinen Ehering werde ich NIE wieder abnehmen.

Katharina Gernet lebt in Braunschweig und arbeitet als Übersetzerin für Leichte und Einfache Sprache. An der Volkshochschule trainiert sie mit Erwachsenen das Lesen und Schreiben. Und sie gibt Fahrradkurse für Frauen. Mit ihrer Geschichte „Der Wind beim Fahren“ hat sie den 2. Preis beim Wettbewerb von capito Wien 2021 gewonnen.

42 Personen gefällt das

13Kommentare

  • Godehard
    13.06.2022 22:03 Uhr

    Eine schöne Geschichte die mich echt berührt hat!

  • Matthias
    14.06.2022 07:50 Uhr

    schön, spannend, traurig, auch überraschend

  • Saskia
    14.06.2022 12:47 Uhr

    Sehr mitreißend formuliert, ein schöner Lesefluß.

  • Renate
    14.06.2022 17:31 Uhr

    Eine wunderschöne, anrührende Geschichte über Dankbarkeit.

  • Wibke
    15.06.2022 06:41 Uhr

    Eine berührende Geschichte, sehr schön umgesetzt.

  • Yvonne
    15.06.2022 21:27 Uhr

    Eine berührende Geschichte, bei der trotz Unglück, Glück und Hoffnung am Ende bleibt.

  • Barbara G.
    16.06.2022 19:53 Uhr

    Diese Geschichte gehört in Kopf und Herz.

  • Willi
    17.06.2022 11:14 Uhr

    Eine wunderschöne Geschichte. Danke

  • Lisa
    19.06.2022 15:46 Uhr

    Sehr berührend und bildhaft vorstellbar.

  • Undine
    26.06.2022 16:02 Uhr

    Da komme ich ins Nachdenken,wer und was eigentlich wichtig im und für das Leben ist .

  • Conni
    29.06.2022 18:43 Uhr

    Wenn man glaubt, alles verloren zu haben, kommt ein Lichtstrahl, der das eigentlich Wichtige leuchten lässt und dies wird in dieser bewegenden Geschichte deutlich.

  • Mike
    29.06.2022 18:46 Uhr

    Toll geschrieben - so, wie es sein soll!

  • Christine
    29.08.2022 15:49 Uhr

    Beim Lesen sah ich alles bildlich vor mir.
    Gefühle voller Gänsehaut überfluteten mich.
    Leben und Gesundheit sind sehr kostbar.
    Frieden und Freiheit gehören mit dazu.
    Materielle Verluste kann der Mensch verkraften.
    Wir haben für Flutopfer gespendet.
    Andere Menschen auch dazu angeregt.
    Zusätzlich mit meiner Vorlesung/Vortrag
    ohne Gegenleistung erheitert.
    Lachen und Freude waren Lohn auf beiden Seiten.
    Christine K. aus Leipzig

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