Wenn mich die Muse küsst Vorlesen

31. Mär 2023Angelika Pohl
Kirschblüten

„Warum malst du nicht die Jahres·zeiten?
Das ist doch ein schönes Thema“, sagt Mimi.
Mimi findet ihre Ideen immer toll.
Mimi ist wie ihr Name.
Mimi ist immer sehr fröhlich.
Fröhlich wie die zwei i in ihrem Namen.
Die i – sie klingen hell.
Und wenn man Mimi sagt,
dann lächelt man.
Man kann gar nicht anders.

Mimi liebt ihre zwei i.
Sie schreibt die i-Punkte immer besonders.
Als Herz.
Oder bunt.
Oder als Sterne.

Ich heiße Nuna.
Ich bin auch wie mein Name.
Ich bin gemischt.
Ich bin mal so und mal so.
Ich bin mal traurig und mal fröhlich.
Aber beides nie sehr.
Ein u ist kein o.
Ein o klingt sehr traurig.
Aber ein u ist nur ein wenig traurig.
Und ein a ist fröhlich.
Aber ein a ist weniger fröhlich als ein i.
Ein a ist mittel·fröhlich.
Und so bin ich: mittel·fröhlich.
Ich bin mittel·fröhlich,
wenn ich nicht gerade mittel·traurig bin.
Eben Nuna.

Mal so, mal so – das ist gut.
Denn es ist manchmal auch schön,
traurig zu sein.
Und mittel·traurig zu sein
ist besser als sehr traurig zu sein.
Finde ich.
Ja, mittel·etwas zu sein,
das ist gut.
Eigentlich ist das gut.
Aber wenn Mimi so super·fröhlich durch den Raum geht,
dann fühlt sich mittel·fröhlich etwas traurig an.

„Fang doch mit dem Frühling an“, trällert Mimi.
„Wir haben Winter“, sage ich.
„Der Frühling ist aber fröhlicher“, trällert Mimi.
„Und der Frühling hat Farben.
Der Frühling ist schön bunt“, sagt Mimi.
„Der Winter ist nur weiß“, redet Mimi weiter.
„Weiß wie das Papier.
Winter kann man auf dem Papier gar nicht sehen.“
Mimi lacht.
Sie lacht ganz hell.
Auch ihr Lachen ist wie ihr Name: sehr fröhlich.

Wenn ich mal lache,
dann hört das kein Mensch.
Ich lache leise.
Mein Lachen kann man nur sehen.
Ich habe dann tiefe Lach·falten.
Wenn Mimi und ich gleichzeitig lachen,
gucken alle zu Mimi hin.
Kein Mensch guckt mich dann an.
Außer mal aus Versehen.
Dann tun alle überrascht
und sagen:
„Nanu, Nuna! Du lachst ja …“
Und sie freuen sich über ihr Wort·spiel.
„Nanu, Nuna“ – sooo witzig ist das gar nicht.
Aber Mimi lacht darüber, logisch.
Und alle gucken wieder zu ihr.

„Ich male jetzt den Frühling“, sagt Mimi.
Mimi und ich sind Künstlys.
Das ist unsere Arbeit.
Wir gehen wie alle Leute arbeiten.
Montag bis Freitag.
Aber in unserer Werkstatt bauen wir nichts.
Wir malen.
Wir machen Kunst.

Wir verkaufen unsere Bilder auch.
Zweimal im Jahr machen wir eine richtige Ausstellung.
Mit Einladung.
Mit schönen Reden.
Mit Fotos für die Zeitung.
Das ist ein tolles Gefühl.
Fremde Menschen sehen unsere Bilder an.
Fremde Menschen kaufen unsere Bilder.
Sie mögen unsere Bilder so sehr,
dass sie Geld dafür ausgeben.

Unsere Bilder sind aber auch wirklich gut.
Das ist kein Zufall.
Wir arbeiten hart.
Wir reden viel über Kunst.
Wir sprechen über unsere Bilder.
Wir lernen neue Mal·techniken.

Aber das Wichtigste ist unsere Input-Stunde.
Input ist Englisch.
Input bedeutet:
Da kommt etwas in uns rein.
Gedanken. Gefühle.

In unserer Input-Stunde hören wir Musik.
Ganz verschiedene Musik.
Oder wir hören Gedichte.
Oder Geschichten.
Oder wir sehen uns Fotos an.
Oder schöne Stoffe.
Oder wir riechen an Blumen.
Oder schmecken Gewürze.

Und dann,
dann schließen wir die Augen.
Ich liebe diese Minuten.
Es ist still.
Alle atmen leise.
Ich fühle mein Herz schlagen.
Das ist einfach schön.
Das ist jeden Tag wieder schön.

Und dann geht’s an die Arbeit.
So wie jetzt.

Manchmal weiß ich sofort,
was ich malen will.
Aber manchmal sitze ich an meinem Platz.
Und sitze und sitze
vor dem leeren Blatt Papier.
Auch mein Kopf ist dann ganz leer.
Dann warte ich darauf,
dass mich die Muse küsst.
Manchmal muss ich lange warten.

„Dass mich die Muse küsst“ – das sagen wir Künstlys so.
Es bedeutet:
Wir bekommen eine Idee.
Eine Idee ist so schön wie ein Kuss.
Eine Idee kommt manchmal ganz plötzlich.
Wie Küsse.
Küsse kommen ja auch manchmal ganz plötzlich.

Ich stelle mir die Muse so vor:
Die Muse ist wie eine kleine Fee.
Man kann sie gar nicht sehen.
Die Muse fliegt vorbei.
Ihr Kuss ist ganz sanft.
Man kann ihn gar nicht spüren.
Aber der Kuss ordnet in meinem Kopf
alles neu.
Und schwupps habe ich eine Idee.
Ich mag es,
wenn die Muse mich küsst.

Ich will nicht,
dass Mimi heute meine Muse ist.
Aber es ist zu spät.
Mimis Frühlings-Idee hat mich geküsst.
Ich kann nur noch an Frühling denken.
Und bei Frühling denke ich an ein blaues Band.

Das blaue Band kommt aus einem Gedicht.
Wir haben das Gedicht mal in einer Input-Stunde gehört.
Das blaue Band war gleich im ersten Satz.
Ich habe das Gedicht damals nicht ganz verstanden.
Bei Gedichten verstehe ich nie alles.
Das stört mich aber nicht.
Das ist normal.
Ich habe das Gedicht gehört.
Ich habe nur wenig verstanden.
Aber das blaue Band – das war gleich in meinem Kopf.

Und der erste Satz war so sanft.
Deshalb habe ich mir den Satz später ab·geschrieben.
Ich habe ihn auf einen hell·blauen Zettel geschrieben.
Der Zettel liegt immer unter meinem Kasten mit den Stiften.
Der Satz heißt:
Frühling lässt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte.

Ich habe diesen Satz wieder und wieder gelesen.
Frühling lässt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte.
Und noch mal:
Frühling lässt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte.
Und noch mal.
Und ganz langsam habe ich den Satz verstanden.

Seitdem kann ich den Frühling schmecken.
Das blaue Band sehen.
Das leise Flattern hören.
Und ich kann die Lüfte spüren.
Sie streifen sanft mein Gesicht.
Frühling lässt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte.

Ich bekomm dann oft Tränen in die Augen.
Ich kann das nicht erklären.
Ich bin dann mittel·traurig.
Aber schön mittel·traurig.

Ich könnte ja auch fröhlich sein.
Oder zumindest mittel·fröhlich.
Denn der Satz sagt,
dass der Frühling wieder·kommt.
Frühling ist gut.
Frühling heißt:
Es wird wärmer.
Frühling heißt:
Die Pflanzen wachsen wieder.
Die Bäume bekommen Blätter.
Frühling heißt:
Die Vögel singen viel und laut.

Meine Mama sagt immer:
„Der Frühling ist ein Versprechen.“
Den Satz mag ich auch gern.
Aber den muss ich mir nicht aufschreiben.
Den Satz behalte ich auch so.

Natürlich haben wir auch andere Gedichte gehört.
Gedichte mit anderen Jahres·zeiten.
Die waren auch schön.
Über den Winter
mit Eis·blumen und Schnee·bällen.
Über den Sommer
mit Sonnen·schein und baden im See.
Über den Herbst
mit bunten Wäldern und Heu·duft.

Aber nur das blaue Band habe ich mir ab·geschrieben.
Nur das blaue Band lese ich immer wieder.
Frühling lässt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte.

Nein, Mimi versteht den Frühling nicht.
Sie will den Frühling mit vielen Farben malen.
Mimi malt alles mit vielen Farben.
Mit fröhlichen Farben.
Fröhliche Bilder von der fröhlichen Mimi.
Aber der Frühling ist nicht bunt.

Der Frühling ist blau.

Und der Frühling ist gemischt.
Er ist mal so und mal so.
So wie ich.
Der Frühling ist ein bisschen fröhlich.
Denn er verspricht Wärme und Licht.
Aber der Frühling ist auch ein bisschen traurig.
Denn er vertreibt den Winter.
Die gemütliche Zeit ist zu Ende.
So sehe ich das.

Frühling lässt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte.

Ja, ich will den Frühling malen.
Blau.
Mit Wasser·farben.
Mit leichten Wasser·farben.
Ich hole mir Wasser.
Ich stelle den Tusch·kasten auf den Tisch.
Ich nehme einen großen, dicken Pinsel.

Ich habe ein bisschen Angst anzufangen.
Das kenne ich schon von mir.
Das ist normal.
Der Anfang ist immer am schwersten.
Ich denke dann:
Ich schaffe es nicht.

Mein Trick:
Ich schließe die Augen.
Ich atme tief ein.
Ich schmecke den Frühling.
Ich sehe das blaue Band.
Ich höre das leise Flattern.
Ich spüre die Lüfte.
Sie streifen sanft mein Gesicht.

Los geht’s!
Jetzt wird gemalt.

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--- Die Geschichte ist zu Ende. Nuna arbeitet jetzt. ---
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Liebes Lesy,

das ganze Gedicht steht hier unten.
Der Dichter heißt Eduard Mörike.
Mörike ist im Jahr 1875 gestorben.
Er ist schon über 140 Jahre tot.
Einige Wörter sind deshalb alt·modisch.
Aber viele Menschen lesen sein Gedicht heute noch gern.

Er ist's

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohl·bekannte Düfte
Streifen ahnungs·voll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
Horch, von fern ein leiser Harfen·ton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!

--- Und hier noch eine Erklärung: ---

Mimi und Nuna sind Künstlys.
Künstly ist ein neues Wort.
Künstly ist eine Person,
die Kunst macht.

Das geht auch mit anderen Wörtern.
Hier kommen 3 Beispiele:
Das Fahry ist eine Person,
die fährt.
Zum Beispiel ein Bus·fahry.
Das Leity ist eine Person,
die etwas leitet.
Zum Beispiel ein Werkstatt·leity.
Das Zuhöry ist eine Person,
die zuhört.

Warum gibt es diese neuen Wörter?
Nun:
Sie kennen die Wörter Künstler und Künstlerin.
Das sind Männer und Frauen,
die Kunst machen.
Aber es gibt auch Menschen,
die sind nicht Frau und nicht Mann.
Und oft ist das Geschlecht auch völlig egal.

Dafür gibt es diese neue Wort-Form.

Und so geht das:
Man lässt das er oder erin weg.
Dafür hängt man ein y an.
Gesprochen wird das y wie ein i.
Wie bei Baby.
Und wenn es mehrere Personen sind,
dann hängt man außerdem noch ein s dran.
Wie bei Künstlys.
Mimi und Nuna sind Künstlys.

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