Eine ganz normale Familie Vorlesen

22. Mai 2020Doreen Kuttner
Mohnblumen, Bild von utroja0 auf Pixabay

Eine ganz normale Familie

von Claudia Schäfer

Katja

Ich bin Katja.
Ich bin mit Jo seit 15 Jahren verheiratet.
Wir haben eine Tochter.
Sie heißt Sina und ist 14 Jahre alt.
Ich bin 38 Jahre alt.

Bei uns im Dorf passiert nicht viel.
Das Frühlings-Fest im Frühling.
Das Sommer-Fest im Sommer.
Der Ernte-Dank im Herbst.
Und die Weihnachts-Messe an Weihnachten.

Mit Jo bin ich seit dem Frühlings-Fest zusammen.
Das war vor 23 Jahren.

Alle sind zum Frühlings-Fest.
Jeder freute sich darauf.
Auch ich freute mich auf das Frühlings-Fest.
Es gibt Box-Autos.
Und einen Stand mit Zucker-Watte.
Und kandierten Äpfeln*.
Es gibt eine Bude zum Dosen werfen.
Und eine zum Schießen.
Die Jungs schießen für die Mädchen eine Rose.
Am besten eine rote Rose.
Das ist noch immer so.

Ich stehe also an der Schieß-Bude.
Damals vor 23 Jahren.
Meine Freundinnen Steffi und Sabrina sind auch da.
Wir wollen cool* sein.
Um den Jungs zu gefallen.
Deshalb haben wir Sonnen-Brillen auf.
Obwohl die Sonne gar nicht scheint.
Egal.
Hauptsache cool*.
Ich trage mein Lieblings-Shirt*.
Es ist rosa und kurz.
Man kann den Bauch-Nabel sehen.
Und dazu meine Lieblings-Jeans*.
Sie ist schon ganz verwaschen
und der Stoff ist ganz dünn an den Knien.

JO

Ich bin Jo.
Ich bin mit Katja verheiratet.
Katja ist meine Traum-Frau.

Ich weiß noch ganz genau, wie ich Katja kennengelernt habe.
Damals vor 23 Jahren.
Katja mit den langen braunen Haaren.
Und den Sommer-Sprossen* auf der Nase.
Katja mit dem süßen Lächeln.
Ich war sehr verliebt in Katja! 

Doch sie weiß es nicht.
Ich bin zu schüchtern und traue mich nicht es ihr zu sagen.
Ob Katja wohl meinen Namen kennt?
Wahrscheinlich nicht!
Wahrscheinlich ist sie auch in Flo verliebt.
Wie fast alle hübschen Mädchen!

Flo!
Wie das schon klingt!
Voll bescheuert!
Er heißt Florian!

Okay, ich heiße auch nicht nur Jo.
Ich heiße Joachim.
Aber das ist was anderes!
Wer will denn schon Joachim heißen?
Bin meinen Eltern heute immer noch böse.
Blöder Name!

Ach Katja!
Da steht sie mit ihren besten Freundinnen
Steffi und Sabrina an der Schieß-Bude.

Das ist meine Chance!
Kein doofer Flo weit und breit zu sehen!

Katja vor 23 Jahren

Huch! Da kommt Jo!
Er kommt direkt auf uns zu.
Ich kenne ihn aus der Schule.
Aber nur vom Sehen.
Ich glaube, Jo ist okay.

Kein so Angeber wie Flo.
Flo, der immer die coolsten Klamotten hat.
Naja, er hat auch viel Geld.
Seinem Vater gehört die Tank-Stelle.
Die einzige Tank-Stelle in der ganzen Gegend.
Flo kann sich gute Klamotten leisten.
Er sieht ja auch gut aus.
Aber er ist trotzdem ein Angeber.

Jo stellt sich zu mir.
„Na? Soll ich mein Glück beim Schießen mal probieren?“

Mein Gesicht wird rot und ganz heiß.
Das ist nicht mehr cool!

„Klar“, sage ich.
Ich schiebe meine Sonnenbrille auf den Kopf.
„Ich will aber eine rote Rose“ sage ich.
„Geht klar“ sagt Jo und drückt das Gewehr an seine Schulter.
PENG macht es und die rote Rose klappt nach hinten.
„Du hast getroffen“! Ich freue mich.
„Klar“, sagt Jo.
Hier bitteschön. Für Dich!
Ich lächle mein schönstes Lächeln.

Steffi und Sabrina schauen auf den Boden.
Nicht traurig sein, ihr beiden!
Ihr bekommt natürlich auch eine Rose.
Aber keine rote.
Die ist nur für Katja.“

Und Jo schießt eine gelbe Rose für Steffi.
Und eine rosa Rose für Sabrina.

Jo lächelt mich an.
Er steht ganz dicht neben mir.
Mir wird ganz heiß!
Ich bekomme wieder ein rotes Gesicht.
Und es kribbelt in meinem Bauch.
Ich habe mich verliebt.
In Jo.
Damals vor 23 Jahren.

Sina vor einem Jahr

Es ist so still daheim.
Dabei sind wir alle da.

Mama, Papa und ich.
Und natürlich Emmi.
Unser Hund.
Und selbst Emmi ist still.
Obwohl sie früher so oft gebellt hat!

Ich drehe die Musik lauter.
Namika* singt ihr Lied vom Lieblings-Mensch.
Ich liebe dieses Lied!
Ich habe einige Lieblings-Menschen.
Vor allem meine Freundinnen Sara und Luisa.

Ganz kurz war ich auch mal verliebt.
In Noah.
Aus der 10. Klasse.
Aber dann war Noah plötzlich mit Jule zusammen.
Dann war ich nicht mehr verliebt.

Ich liege auf meinem Bett.
Gemütlich liege ich mit einer Decke und Emmi.
Emmi ist mein Lieblings-Hund.
Emmi kann ich alles erzählen.
Sie hört mir immer zu.
Ich kann Emmi auch alle schlechten Gefühle erzählen.
Solche wie damals, als ich mich in Noah verliebt hatte.
Da habe ich auch mit Emmi auf meinem Bett gelegen.
Und ihr in das schwarze Fell geweint.
Ich habe so viel geweint, bis Emmi ganz nass am Hals war.
Dann hab ich aufgehört zu weinen.

Jungs sind eh doof.
Sie zocken die ganze Zeit an der Play-Station* rum.
Das ist voll langweilig.
Da geh ich lieber mit Emmi im Wald spazieren.
Es ist zu ruhig daheim.
Mama und Papa sprechen fast nichts mehr miteinander.
Früher haben sie sich oft gestritten.
Und sich auch mal angeschrien.

Das war sehr schlimm für mich!
Ich bin dann in mein Zimmer.
Und habe Lieblings-Mensch gehört.
Ganz laut habe ich die Musik gemacht.
Und Emmi ins Fell geheult.

Aber eigentlich ist es jetzt noch schlimmer.
Diese Stille!
Ich kann es kaum aushalten.

Papa schläft schon lange im Gäste-Zimmer.
Weil er schnarcht, sagt er.
Mama geht dauernd zum Yoga* in die Stadt.
Manchmal 3 mal in der  Woche.
Das ist doch auch nicht normal!
3 mal in der Woche!

Wir essen schon lange nicht mehr zusammen.
Mama kocht manchmal etwas.
Und jeder isst, wann er Lust hat.
Oder holt sich eine Pizza.

Ich mache mir schon große Sorgen.
Was, wenn meine Mama und mein Papa sich scheiden lassen?
Was wird dann mit mir?
Wo soll ich dann wohnen?
Vielleicht muss ich auf eine andere Schule gehen?
Und was wird mit meinen Freundinnen?
Die sehe ich dann ja nicht mehr.
Und kenne keinen Menschen in der neuen Schule.
Ich habe so große Angst davor!

Vielleicht bin ich ja schuld daran,
dass meine Eltern sich nicht mehr verstehen?
Weil ich manchmal so zickig bin?
Und weil ich in der Schule schlechte Noten bekommen habe?

Manchmal schlafe ich sehr schlecht.
Und wache dauernd auf.
Oder ich habe schlimme Träume.
Einmal habe ich geträumt, dass meine Eltern beide tot waren.
Ich bin aufgewacht und ins Schlaf-Zimmer gerannt.
„Mama, wo ist Papa“? rufe ich
und meine Mutter wird wach.
„Er schläft im Gäste-Zimmer“ sagt sie.
„Was ist denn los, Sina?“
„Nichts“, sage ich.
„Ich habe nur schlecht geträumt“.

Ich habe so große Angst,
dass meine Eltern sich trennen!

Jo vor einem Jahr

Wo ist nur unsere Liebe hin?
Katja und ich sprechen fast nichts mehr miteinander. 

Nur noch, wenn es um Sina geht.
Weil sie in der Schule so schlechte Noten bekommt.
Und weil sie manchmal so zickig ist.

Katja ist doch meine Traum-Frau!
Ich liebe einfach alles an ihr.
Wie sie riecht.
Wie sie spricht.
Wie sie geht.
Und ihre Sommer-Sprossen auf der Nase.
Die immer mehr werden, wenn es Sommer ist.
Was ist denn nur passiert mit uns?

Zum Frühlings-Fest geht Katja auch nicht mehr.
Ich gehe ohne sie hin.
Mit meinem Freund Flo.
Flo kenne ich schon lange.
Er war ein blöder Angeber früher.
Aber jetzt sind wir Freunde.

Katja geht zum Yoga.
Andauernd fährt sie in die Stadt.
In der Stadt hat ein neues Yoga-Studio aufgemacht.
Manchmal geht Katja 3 mal in der Woche hin.
Das ist doch auch nicht normal!
3 mal in der Woche!
Viel beweglicher kann sie nicht mehr werden!

Katja vor einem Jahr

Irgendwie ist es schon schade,
wenn eine Familie so zerbricht
So viele Jahre haben Jo und ich miteinander gelebt.
Und nun haben wir uns einfach nichts mehr zu sagen!

Wir haben uns geliebt!
Wir haben eine tolle Tochter!

Aber plötzlich ist sie weg, meine Liebe.
Wo ist sie nur hin?

Ich empfinde nichts mehr für Jo.
Ich kann ihn nicht mehr riechen.
Und ich ertrage sein Schnarchen nicht mehr!
Nein, ich hasse ihn nicht!
Aber ich liebe ihn auch nicht mehr.

Und:
Ich glaube, ich habe mich neu verliebt!
Er heißt Samu und er ist mein Yoga*-Lehrer.

Samu weiß nichts von meiner Liebe.
ich traue mich nicht, es ihm zu sagen.
Samu ist doch auch viel jünger als ich!
Der will bestimmt nichts von mir wissen!

Aber ich will ihn so oft es geht sehen.
Deshalb gehe ich zum Yoga*.
3 mal in der Woche.
Ich bin schon ganz gut trainiert!

Samu ist sehr nett zu mir.
Immer freundlich und gut drauf.
Aber eigentlich ist er nett zu allen Frauen.
Naja, eigentlich ist es auch eher eine Schwärmerei für Samu.

Damals, als ich Jo kennengelernt habe,
damals, das war echte Liebe! 

Wenn er zur Arbeit musste,
habe ich ihn schon nach 5 Minuten vermisst.

Wenn er später nach Hause gekommen ist,
habe ich mir Sorgen gemacht.

Wo ist nur meine Liebe hin?

Ich kann so nicht mehr weiterleben.
Ich will so auch nicht mehr weiterleben.
Ich habe einen Beruf.
Ich verdiene Geld.
Ich nehme mir eine eigene Wohnung.
Und Sina nehme ich mit!
Ein Kind gehört zu seiner Mutter!

Sina heute

Oh Mann, wie schnell die Zeit vergeht
und plötzlich ist alles anders!

Ich wohne noch in derselben Wohnung.
Und gehe noch in dieselbe Schule.

Mama ist ausgezogen.
In eine kleine Wohnung unter dem Dach in der Stadt.
Die Wohnung ist heiß im Sommer.
Und sie ist kalt im Winter.

„Du kommst mit mir, Sina“ sagte meine Mama.
„In der Stadt suchen wir Dir eine neue Schule.
Da gibt es viele.
Du kannst sie auswählen.“

„Ich will aber nicht in die Stadt“ brülle ich.
Ich weine und ich schreie.
Ich renne in mein Zimmer
und schlage die Türe hinter mir zu.
ICH WILL NICHT IN DIE STADT!!!

Ich will auch nicht mit Mama gehen.
Sie und ihr blöder Yoga-Lehrer!
Samu, so ein bekloppter Name!
Ständig hören sie indische Musik
und zünden Räucher-Stäbchen* an!
Die ganze Wohnung stinkt nach Lavendel*!

Die haben doch nicht alle Tassen im Schrank!

Das alles habe ich Emmi erzählt.
Und ihr ins schwarze Fell geheult,
bis es ganz nass am Hals war.
Ich hab das auch meinen Lieblings-Menschen
Sara und Luisa erzählt.
Dazu sind Freundinnen ja da!

Sara hat gesagt:
„Komm, wir gehen zu meiner Mama.
Die ist Rechts-Anwältin.
Die kann Dir sicher helfen.“

Saras Mama hat gesagt:
Kinder ab 14 Jahren dürfen mitreden,
bei wem sie leben wollen.
Bei Mama oder Papa.

Und so wohne ich jetzt mit Papa zusammen.
Es ist nicht mehr so ordentlich als früher.
Aber das ist egal!
Wir machen Filme-Abende auf dem Sofa
und Emmi darf nun auch auf das Sofa liegen.

Alle 2 Wochen besuche ich Mama.
Das ist auch ganz okay.
Samu hat ja eh immer seine Yoga-Stunden.
Und Mama und ich gehen dann Eis essen.
Oder Pizza.

Und an Weihnachten und zum Geburtstag
bekomme ich doppelt Geschenke.

Und das ist eigentlich das Beste daran!


Manche Wörter sind in schwerer Sprache.
Ich erkläre sie im Wörter-Buch.

Wörter-Buch:

Kandierte Äpfel:
Kandierte Äpfel sind mit einer Zucker-Schicht überzogen.
Dadurch sind sie länger haltbar.
Und sie sehen länger schön aus.
Kandierte Äpfel schmecken sehr süß.

Cool:
Cool ist ein englisches Wort.
Man spricht das so: kuhl.
Es bedeutet: toll.
Und auch ein wenig lässig.

Lieblings-Shirt:
Shirt ist ein englisches Wort.
Man spricht das so: Schört.
Ein Shirt ist ein Oberteil mit kurzen Ärmeln.

Lieblings-Jeans:
Jeans ist auch ein englisches Wort.
Man spricht das so: Tschiens.
Die Lieblings-Jeans zieht man gerne an.
Und will sie nicht in die Wasch-Maschine geben.

Sommer-Sprossen:
Sommer-Sprossen sind kleine braune Flecken auf der Haut.
Manche Menschen bekommen sie, wenn sie in die Sonne gehen.
Man nennt sie auch: Sonnen-Küsse.

Play-Station:
Die Play-Station ist ein Gerät.
Damit kann man Spiele spielen.
Und Filme anschauen.

Yoga:
Yoga sind bestimmte Übungen die gut sind für den Körper
und die Seele.
Viele Menschen machen Yoga um sich zu entspannen.
Oder weil sie Schmerzen haben.
Zum Beispiel im Rücken.
Ein Yoga-Lehrer heißt Yogi.

Räucher-Stäbchen:
Räucher-Stäbchen sind dünne Stäbchen aus Holz.
Um das Holz werden zum Beispiel Kräuter gemacht.
Die Räucher-Stäbchen muss man anzünden.
Dann riecht es gut nach den Kräutern.

Lavendel:
Lavendel ist eine Pflanze.
Ihre Blüten sind lila.
Sie riecht gut.

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