Drei Tonnen zum Verlieben Vorlesen

15. Mai 2020Andrea Hundsdorfer
Mülltonnen, Bild von PixelDino auf Pixabay

Drei Tonnen zum Verlieben

von Andrea Hundsdorfer


Hoppla! Was war das denn?, denke ich und trete auf die Bremse. Haus Nummer 34 steht doch leer, oder? Ich überlege, wann die alte Minna gestorben ist. Wie peinlich, denke ich, denn ich weiß es nicht mehr. Nach ihrem Tod stand ihr Haus lange Zeit leer. Niemand schien ein Interesse daran zu haben. 

Mensch, Alex sieh zu, dass du in die Pötte kommst, ermahne ich mich. Ich lege den Rückwärtsgang ein und lasse meinen 7-Tonner langsam zurückrollen.
Tatsächlich, dort steht sie grau und einsam am Straßenrand … und falsch herum. Für einen kurzen Augenblick überlege ich, die Mülltonne einfach stehen zu lassen, aber dann siegt mein Pflichtgefühl. 

Okay, ich muss zugeben, der Aufkleber auf dem Deckel der Tonne mit dem   Richtungshinweis ist völlig ausgebleicht. Trotzdem hätte der Aufsteller ruhig mal schauen können, wie die Nachbarn ihre Tonnen aufstellen. Aber scheinbar ist das dem neuen Bewohner egal. Wütend packe ich den Griff der Tonne, drehe sie um und lasse sie geräuschvoll auf den Asphalt knallen. Grimmig stapfe ich zurück zum Wagen und knalle die Tür zu. 

Während die graue Tonne nach oben schwebt, werfe ich einen Blick auf das Haus. Es wirkt immer noch verlassen. Bis auf die Mülltonne am Straßenrand deutet nichts auf einen neuen Bewohner hin. 

„Nummer 34 in der Möhnestraße ist wohl wieder bewohnt.“ 
Günther, genannt Günni, und ich verbringen unsere Mittagspause gemeinsam. 
„Nummer 34?“, fragt er nach. „Das ist doch das Haus von Minna.“ 
Ich nicke. 
„Nee, hab´ noch nichts gehört“, antwortet Günni. „Minna lebte ja ganz alleine dort. Sie hat ´ne Tochter, die ist aber schon als ganz junges Mädel ab nach Australien. Die müsste auch schon so um die sechzig sein.“ 

Die Erwähnung des Alters der möglichen neuen Bewohnerin macht mir ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hat die alte Frau hinter der Gardine gestanden und sich fürchterlich erschrocken, als ich die Mülltonne so polternd gewendet habe. In diesem Moment nehme mir vor, nach Dienstschluss vorbeizufahren und ihr das mit den Mülltonnen zu erklären. Dann könnte ich gleich einen neuen Aufkleber an der Tonne anbringen.

Ich parke mein Auto, schnappe mir die Aufkleber und steige aus. Das Haus liegt völlig im Dunkeln. Nur hinter der Gardine in der Küche brennt Licht. Ich stolpere über die Steinplatten Richtung Haustür, doch dann bleibe ich plötzlich stehen. Ich gehe drei Schritte zurück und schaue erneut zum Küchenfenster. 

Dort wirbelt sie herum. Ihre rotblonden Locken schaffen es kaum, die Richtung zu halten. So schnell werden sie im Takt der Musik, die nun an mein Ohr dringt, hin und her geworfen. Endlich hält die Tänzerin inne und ich kann ihr Gesicht  sehen. Schon wirbelt sie weiter, verträumt, elfenhaft, wunderschön … und verschwindet aus meinem Sichtfeld.

Wie angewurzelt stehe ich mitten auf dem Weg und starre in die leere Küche. Sie… sie… ist das bezauberndste Wesen, das ich jemals gesehen habe. Und auf keinen Fall sechzig Jahre alt!   

Plötzlich streift mich etwas am Hosenbein. In der gleichen Sekunde höre ich ein Miauen. Schon geht das Licht im Flur an. Mist, was soll ich tun? Ich komme von der Stadtreinigung und hätte hier noch drei Aufkleber für ihre Mülltonnen. Es gäbe wohl kaum einen blöderen ersten Satz. Höchstens noch getoppt durch: Ich hab ´ne Wassermelone getragen.

Ich entscheide mich zur Flucht und hechte hinter einen dicken Busch. Ich hoffe, dass mir die Katze nicht folgt, denn schon öffnet sich die Haustür. „Minou?“, ruft sie, und ich hoffe, die Katze gehorcht wenigstens ein bisschen. Ich sehe ihre grünen Augen in meine Richtung funkeln. Mit einem letzten „Miau“ dreht sie sich um, streift einmal um die Waden ihres Frauchens und verschwindet dann im Flur. Kurz darauf schließt sich die Tür und die Lichter im Haus werden gelöscht. 

Ich warte hinter dem Busch, aber es bleibt dunkel. Alles in mir sträubt sich wegzugehen, doch schließlich schleiche ich tief gebückt vom Grundstück. Dabei übersehe ich die alte Vogeltränke. Leise vor mich hin  fluchend, reibe ich mir die Stelle am Schienbein, bevor ich auf den Bürgersteig stolpere. Noch einmal drehe ich mich um, in der Hoffnung, sie noch einmal zu sehen. Aber eigentlich ist das nicht nötig. Jede winzige Sommersprosse auf ihrer hübschen, kleinen Nase hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Erst im Auto bemerke ich, dass ich noch immer die Aufkleber in der Hand halte, und lächle. Geben sie mir den Grund, dieses zauberhafte Wesen nochmal zu besuchen.

Mit klopfenden Herzen schließe ich die Tür und lösche die Lichter. Ich schleiche in Richtung Fenster und schaue hinaus. Täusche ich mich oder hockt da jemand hinter dem Busch? Da, jetzt schleicht er vom Grundstück. Jetzt stoppt er und reibt sich das Schienbein. Kurz bevor er sich aus dem Staub macht, dreht er sich noch einmal um und schaut genau in meine Richtung. Er trägt keine Maske, um sein Gesicht zu verdecken. Ganz schön leichtsinnig für einen Einbrecher, denke ich, während ich mir sein Gesicht einpräge – für alle Fälle.

„Findest du nicht auch, dass er grinst wie ein Honigkuchenpferd“, meint Günni zu Kalle. „Also, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, er ist verliebt.“ 
„Quatsch“, entgegne ich heftiger als ich möchte. 
„Jau, jetzt sehe ich es auch, guck mal die roten Ohren, wie süß.“ 
Aber sein Spott prallt an meinem Gute-Laune-Panzer ab. Niemand würde es heute schaffen, mir meine gute Stimmung zu vermiesen! Denn heute Abend werde ich sie wiedersehen. Und meine Angst, mich total zu blamieren, blende ich einfach aus. 

„Bist doch ein netter Kerl“, meint Kalle zum Abschied. Nett ist die kleine Schwester von Scheiße, schießt es mir durch den Kopf. Am besten ich vergesse die  ganze Sache gleich wieder, oder? Völlig verunsichert schlürfe ich zu meinem Auto. Auf dem Weg gehe ich noch mal alle Sätze durch, die ich geübt habe. Ich werde mich vorstellen und sie in unserem Dorf willkommen heißen. Ich werde ihr die Aufkleber überreichen und ihr meine Hilfe anbieten ... ich fahre weiter, ohne anzuhalten.

Sie steht auf dem Bürgersteig und verabschiedet sich gerade von einem großen, gut aussehenden Mann. Dabei steht sie nur auf den Zehenspitzen und hat ihre Arme um seinen Oberkörper geschlungen. Meine Hände umfassen das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Alex, du bist so ein Trottel! Wie hatte ich nur annehmen können, dass es zu dieser Elfe keinen Peter Pan gibt.

Täusche ich mich? Ist das nicht...? 
Langsam rollt der Golf die Straße entlang. Der Fahrer hält den Blick stur geradeaus gerichtet.
Aber ich könnte schwören ... oder doch nicht?

„Oh, oh“, sagt Günni am nächsten Morgen an Kalle gewandt. 
Mein Gesicht, was sage ich, mein ganzer Körper spricht Bände. Ich habe einen Riesenkater. Schnell ist meinen Kollegen klar, dass ich heute früh noch nichts am Lenkrad eines 7-Tonners zu suchen habe.

Kalle hält mir das Alkoholmessgerät hin. „Pusten“, befiehlt er kurz aber unmissverständlich. Ein Blick auf die Anzeige, und das Urteil ist gefällt. 
„Nee Junge, das wird jetzt noch nichts. Du machst erstmal das Lager sauber. Danach kannst die Fahrzeuge Nummer drei und vier waschen.“ 
Ergeben nicke ich und trolle mich. 

Mein Kopf dröhnt fürchterlich, und mein Magen rebelliert. Eigentlich hatte er sich bereits in der Nacht seines gesamten Inhaltes entledigt und sollte jetzt endlich Ruhe geben. Merkt er denn nicht, dass ich schrecklich leide? Um zehn Uhr puste ich ein weiteres Mal in das Messgerät, und es gibt mir grünes Licht. Schnell beginne ich mit meiner Tour. Die Mittagspause spare ich mir und so schaffe ich es, meine Tour pünktlich zu beenden. 

Ich lasse mir extra viel Zeit beim Duschen und Umziehen. Fast so, als hätte ich Angst, in meine leere Wohnung zurückzukehren. Eigentlich hat mir mein Singledasein ganz gut gefallen, also bis jetzt. Ohne, dass ich es verhindern kann, zieht es mich erneut zum Haus Nummer 34, obwohl die Möhnestraße gar nicht auf meinem Heimweg liegt. Unschlüssig bleibe ich sitzen. Mein Blick fällt auf die Aufkleber. Ich greife sie mir und mache mich auf den Weg. Ich werde sie nur schnell in den Briefkasten schmeißen, ohne zu klingeln, dann habe ich es hinter mir.

Ja, komm nur! Gut so, noch einen Schritt ... jetzt. 

Helles Licht blendet mich und ich hebe den Arm vor die Augen. 

Ha, damit hast du nicht gerechnet! Ich sage nur eins: Bewegungsmelder! 

Mann, mit der Beleuchtung könnte man locker eine ganze Landebahn ausleuchten. Völlig geblendet lege ich die letzten Meter zur Haustür zurück. Blind ertaste ich den Deckel des Briefkastens und lasse die Aufkleber hineingleiten. 

Was tut er denn jetzt? Anstatt die Flucht zu ergreifen geht er einfach weiter. Jetzt macht er sich an der Klappe des Briefkastens zu schaffen. 

Ich verlasse das Grundstück und werfe einen letzten Blick zurück, bevor ich in der Dunkelheit verschwinde. 

Er haut einfach wieder ab? Ohne einen Versuch, irgendwie ins Haus zu kommen? Ist er am Ende gar kein Einbrecher? Ich halte erschrocken die Luft an. Habe ich es mit einem Stalker zu tun? Er dreht sich noch mal um. Sein Blick ist so traurig. Jetzt lässt er den Kopf hängen und verschwindet. Ich warte noch einige Minuten ab, dann schließe ich den Briefkasten auf. 

Ich grübele die ganze Nacht. Hat sie mich schon am ersten Abend bemerkt? Warum sonst hat sie einen Bewegungsmelder installiert? Oder habe ich Spuren hinterlassen? Ist die Vogeltränke kaputt gegangen? Vielleicht hält sie mich für einen Einbrecher? Oder nein, noch schlimmer, für einen Stalker! 

Warum um alles in der Welt kommt ein Mitarbeiter der Stadtreinigung und bringt mir persönlich Aufkleber vorbei? 

Habe ich heute einfach nur Glück gehabt, dass mich nicht gleich die Polizei verhaftet hat? 

Vielleicht ist alles ganz harmlos und nur eine nette Geste. 

Ich nehme mir vor, einen großen Bogen um Nummer 34 zu machen. 

Ich nehme mir vor, der Sache auf den Grund zu gehen.  

Ich schaffe es genau fünf Tage lang, die Möhnestraße zu meiden, bis am Dienstag die Leerung der grünen Tonne auf dem Plan steht. Ich überlege, mit Günni zu tauschen. Mensch Alex, du kannst doch nicht ständig den Dienstplan umschmeißen. Reiß dich zusammen, die zwanzig Sekunden vor dem Haus wirst du doch wohl überleben. 

Ob ich ihn heute wiedersehen werde? Sein trauriges Gesicht ist mir die  ganze Woche nicht aus dem Kopf gegangen. Er hat sich die letzten fünf Tage nicht blicken lassen. Meine Befürchtung, er wäre ein Stalker, kann ich somit begraben. Ich habe ihn völlig falsch eingeschätzt. Es wird höchste Zeit für eine Entschuldigung, und ich habe auch schon eine Idee. 

Hausnummer 26 – 28 – mein Puls steigt – 30 – ich beginne zu schwitzen – 32 – ich will nicht – 34. Den Blick stur geradeaus gerichtet, schaffe ich es kaum, den Greifarm in die richtige Position zu bringen. 

Ja, er ist es. Ich habe es so gehofft. Versteckt hinter der Gardine warte ich gespannt, ob er meine Botschaft entdeckt. Puh, der guckt aber angestrengt nach vorne. Umso besser, dann kann er meine Nachricht ja nicht übersehen.

Während die Tonne nach oben schwebt, stelle ich fest, dass sie die neuen Aufkleber angebracht hat. Und nicht nur das. Auf der Vorderseite der Tonne grinst mich ein Smiley an. Darunter steht: „Sorry“. 

Jetzt müsste er es sehen. 

Gilt das etwa mir? Ich schaue rüber zum Küchenfenster. 

Jetzt schaut er rüber. 

Unwillkürlich muss ich lächeln. 

Er lächelt. Hey, das steht ihm gut.

Mist, die Tonne ist leer und ich muss weiter. 

Schade, die Tonne ist leer und er muss weiter. 

Ich würde so gerne hierbleiben. 

Wäre schön, wenn er ein wenig Zeit hätte. 

Aber vielleicht bilde ich mir viel zu viel ein. Den Smiley hat sie sicher nicht für mich gemalt. Sie wollte nur die Tonne verschönern. 

Ich sollte schnell rauslaufen und … oh, er gibt Gas. Schade. 

Der Smiley begleitet mich während der ganzen Tour, und ständig habe ich ihr Gesicht vor Augen. Okay, nehmen wir mal an, dass die Nachricht für mich war. Hätte ich aussteigen und klingeln sollen?  

Okay, was hatte ich erwartet? Dass er vom LKW springt und klingelt? Ich schüttele den Kopf. Nie und nimmer wäre ich an die Tür gegangen, sondern hätte mich im Haus versteckt. 

Wahrscheinlich hätte sie gar nicht geöffnet, sondern sich irgendwo im Haus versteckt. Sie ist schüchtern keine Frage. Ich muss es ganz langsam angehen lassen.

Er ist schüchtern, keine Frage. Ich sollte es ganz langsam angehen lassen. 

Sollte ich ihr meine Hilfe anbieten? Es gibt doch bestimmt viel zu tun rund ums Haus. Womöglich würde sie mich dann für aufdringlich halten und das wäre auf jeden Fall das komplette Gegenteil von es langsam angehen lassen. 

Wie kann ich ihn näher kennenlernen, ohne ihn gleich zu vergraulen? Ob ich ihn bitten soll, mir beim Umbau zu helfen? Nee, blöde Idee… verflixt! 

Ich fahre heute Abend einfach noch mal vorbei. Vielleicht ist sie ja im Garten, dann könnte ich so tun, als wäre ich ganz zufällig vorbeigekommen. 

Ich hab´s! Vielleicht kommt er ja heute Abend ganz zufällig vorbei, dann könnte ich vorne im Garten… äh… das Beet umgraben oder so. 

Mist! Pünktlich zum Feierabend beginnt es zu regnen. Die Scheibenwischer laufen auf höchster Stufe, aber trotzdem kann ich kaum etwas sehen. 

Verflixt, muss es gerade JETZT anfangen zu regnen? Wütend pfeffere ich die Gummistiefel in die Ecke und schaue enttäuscht hinaus in den Regen. Dann habe ich eine Idee. 

Die blaue Tonne für das Altpapier steht auf dem Bürgersteig, obwohl sie erst nächste Woche dran ist. Eine Schiefertafel hängt davor. 
„Möge die Macht mit dir sein.“  
„Yippiejayjaeh, Schweinebacke!“  
„Mein Baby  gehört zu mir!“ 
Kreuz und quer stehen Zitate auf der Schiefertafel. In der Mitte hat sie eine Kamera       gezeichnet. Ist das ihr Filmgeschmack? Okay, nicht übel! Na, ja bis auf Dirty Dancing vielleicht. 

Ganz langsam fährt er vorbei und liest die Zitate. Er kommt also extra hier vorbei. Dann muss ich mir für morgen etwas Neues einfallen lassen. 

Ein riesiger Notenschlüssel ziert am Donnerstag die Tafel. Drum herum sind fast alle Musikrichtungen aufgeführt: Pop, Rock, Hip Hop, Blues. Nur das Wort Schlager ist mit einem dicken, roten Kreuz versehen. Perfekt, denke ich.

Heute ist Freitag, vielleicht macht er früher Schluss. Besser ich stelle die Tonne gleich nach dem Mittagessen an die Straße. 

Heute ist es die grüne Tonne, die auf dem Gehweg auf mich wartet. Neben einer Schreibfeder stehen Sätze wie: 
„Schneewittchen muss sterben“
„Sakrileg“
„Die Säulen der Erde“. 
Sie ist also eine Leseratte. Okay, das hätten wir also nicht gemeinsam. Hey, aber kein Grund zur Panik Alex. 

„Ja Mama - nein Mama.“ 
Genervt schalte ich das Telefon auf Lautsprecher und lasse sie reden. Ich stelle um auf Autoantwort und werfe ab und zu ein „Hm“  oder ein „Echt?“ ein. Das reicht völlig, um das Gespräch am Laufen zu halten.

Einmal im Monat ruft meine Mutter an. Dabei verlässt sie sich auf ihr sicheres Gespür, dies immer im falschen Moment zu tun. So wie heute, am Samstagmorgen um sieben! Sie erzählt mir den neuesten Tratsch von Leuten, die ich überhaupt nicht kenne. Ist dieses Thema endlich erschöpft, wechselt sie übergangslos in den Fragemodus. Ab jetzt ist ein wenig mehr Aufmerksamkeit von mir gefordert. Ich muss aufpassen meine Antworten in der richtigen Reihenfolge zu geben, denn meine Mutter stellt immer genau vier Fragen: 

„Geht es dir gut? Was macht die Arbeit? Isst du auch genug? Was macht die  Liebe?“ Immer diese vier Fragen. Und immer lauten meine Antworten: „Ja – Läuft – Ja – Nichts.“ 

Daraufhin seufzt meine Mutter einmal und, wenn es ganz schlecht läuft, winkt sie mit dem Zaunpfahl durchs Telefon, und erzählt, dass die Käthe von nebenan nun schon zum dritten Mal Großmutter geworden ist. Dann wünscht sie mir einen schönen Tag, und legt mit einem letzten „Tschüss denn“ auf. 

„Ja Papa – nein Papa.“ Mindestens einmal im Monat ruft er an. Dabei vergisst er den Zeitunterschied von schlapp zwölf Stunden zwischen Neuseeland und Deutschland. Bei ihm ist es jetzt sechzehn Uhr und bei mir kurz nach vier, nachts!

Er entschuldigt sich kurz und dann erzählt er den neuesten Klatsch und Tratsch aus meiner riesigen Verwandtschaft, um dann abrupt in den Fragemodus zu wechseln:

„Wie geht es dir? Was macht die Kunst? Isst du auch genug? Was macht  die Liebe?“ Immer sind es diese vier Fragen und immer lauten meine Antworten: „Gut – Läuft – Ja – Nichts.“

Daraufhin seufzt er und, wenn es ganz schlecht läuft, winkt er mit dem Zaunpfahl über den halben Globus, indem er mir erzählt, dass sein alter Kumpel Jason nun schon zum dritten Mal Grandpa geworden ist. Zum Schluss schickt er mir einen Kuss durchs Telefon und legt mit einem „Call you soon“ auf.

Nachdem mich meine Mutter mit ihrem Anruf aus dem Schlaf gerissen hat, finde ich keine Ruhe mehr. Ich habe aufgeräumt, gesaugt und gespült. Ich muss unbedingt hier raus, sonst putze ich noch die Fenster. Ich ergreife die Flucht. Lieber eine Runde durch den frühen Morgen tapern, als eine weitere Sekunde in diesen vier Wänden. Okay, den Müll könnte ich auch gleich mit runter nehmen. Grrr, Müll, falsches Stichwort. Sofort habe ich ihr Gesicht vor Augen.

Jetzt reicht es. Ich habe aufgeräumt, gespült, und sogar die Fenster geputzt. Ich muss unbedingt eine Pause machen. Die Schiefertafel habe ich heute Nacht schon geschrieben, denn nach Papas Anruf konnte ich nicht mehr schlafen. Seit fünf Uhr schon steht die graue Tonne auf dem Bürgersteig. Und diesmal habe ich ein Stück Kreide auf dem Deckel gelegt. Jetzt ist es fast acht und ich beschließe, eine Runde spazieren zu gehen. 

Messer und Gabel, eingerahmt von Pizza, Spaghetti, Currywurst und Pommes. Ich balle meine Faust. Ja! Kein Sushi, kein Tofu oder sonst einen veganen Quatsch. Ich schaue mich um. Das Haus liegt im Dunkeln. Kein Wunder um diese Uhrzeit. Erst jetzt entdecke ich das Stück Kreide auf der Tonne. 

Okay, das nehme ich jetzt mal als eindeutige Aufforderung. Ich hocke mich vor die Tafel und hinterlasse ihr meine Nachricht: „Heute Abend, 20 Uhr, Pizzeria Da Dano? Ich hol dich ab!”

Ich habe meine Runde beendet und hoffe nun endlich, ein bisschen Schlaf zu finden. Ich stutze. Die Kreide ist weg. Aber dafür habe ich etwas viel Schöneres entdeckt ...

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