Mit den Schwänen fliegen Vorlesen

31. Jan 2024Urs Luger
Die Kunst der Einfachheit 2023 - Stimmt mit ab!, Bild: Hardy Kuttner

Hier, nimm noch ein Stück Kuchen …

Schmeckt er dir? Rosa hat immer diesen Kuchen gebacken. Damals, als ich noch ein Kind war. So einen Kuchen haben wir in Armenien nicht.

Natürlich, es gibt gute Apfelkuchen hier, du hast schon Recht. Aber dieser ist etwas Besonderes. Er schmeckt besser, findest du nicht? Und er ist wie mein Leben, ein bisschen Deutsch, ein bisschen Armenisch.

Wer Rosa war?

Rosa war unsere Nachbarin. Sie hat in der Wohnung über uns gewohnt. Damals, als hier noch die Sowjetunion war. Rosa war die einzige Deutsche, die ich kannte. Meine ersten deutschen Sätze habe ich von ihr gelernt: Hallo, wie geht es dir? Willst du ein Stück Kuchen? Möchtest du eine Geschichte hören? Ein Lied singen?

Mein Onkel hat in einem kleinen Dorf gewohnt, er hat ein Haus mit einem Garten gehabt, mit vielen Apfelbäumen. Heute lebt dort mein Neffe mit seiner Familie und ich fahre nicht mehr oft hin. Aber damals waren wir fast jedes Wochenende bei meinem Onkel. Im Herbst waren die Bäume voll mit Äpfeln und wir haben bei jedem Besuch einen großen Sack mit nach Jerewan genommen.

Wir waren froh über den Garten meines Onkels, es war eine andere Zeit damals, man konnte nicht einfach in den Supermarkt gehen und alles kaufen. Und Rosa hat sich auch gefreut, wenn wir ihr Äpfel mitgebracht haben. Sie hat dann Apfelmus daraus gemacht, das hat sie mit saurer Sahne zu ihren Pfannkuchen gegessen. Und natürlich, sie hat Apfelkuchen gebacken.

Warum Rosa hier in Jerewan gelebt hat?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Sie war schon in Rente und ihr Mann war in Deutschland. Ich ärgere mich heute ein bisschen, dass ich sie nie danach gefragt habe, aber damals hat es mich nicht interessiert. Ich habe mir auch keine Adresse aufgeschrieben, als sie wieder nach Deutschland ging. Später war ich selbst dort und habe versucht, sie zu finden. Aber da gab es noch kein Internet. Da war es nicht so einfach, jemanden zu finden, wenn man den Kontakt verloren hatte. Und heute bin ich selbst schon fast so alt wie Rosa damals, jetzt lebt sie natürlich nicht mehr.

Sie war einfach da und ich habe nicht viel überlegt, warum. Vielleicht wusste meine Mutter es, aber die ist jetzt auch schon tot, die kann ich nicht mehr fragen. So wird es wohl immer ein Geheimnis bleiben. Aber ich glaube, es ist nicht so wichtig, warum sie hier war. Es ist bloß wichtig, dass sie hier war.

Weißt du, eigentlich wollte ich gar nicht Deutsch studieren, sondern lieber Archäologie. Ich wollte Ausgrabungen machen, die alte armenische Geschichte und Kultur erforschen. Dieses Land gab es schon lange vor Deutschland, da kann man viele interessante Dinge in der Erde finden.

Aber alle haben mir abgeraten.

- Denk daran, wie heiß es im Sommer ist, hat mein Onkel gesagt. Willst du immer da draußen stehen und graben? Es ist staubig und die Sonne brennt den ganzen Tag vom Himmel. Bald wirst du aussehen wie eine Trockenpflaume.

Und meine Mutter hat vom Winter geredet:

- Denk nur mal, wie kalt es da ist. Kälte und Schnee, sonst nichts, wer will da die ganze Zeit im Freien arbeiten? Du solltest etwas anderes studieren.

Als ich in die Schule kam, habe ich dort Deutsch gelernt. Und ich war immer die Klassenbeste, weil ich die einzige war, die eine Freundin aus Deutschland hatte. Immer am Donnerstag Nachmittag war ich bei Rosa, da musste meine Mutter länger arbeiten.

Nein, es gab nicht jeden Donnerstag Apfelkuchen, wo denkst du hin? Das war eine andere Zeit, wir haben uns gefreut, wenn es einmal im Monat Kuchen gab. Das war schon etwas Besonderes.

Ich habe auf Rosas Schoß gesessen und oft haben wir Russisch gesprochen. Sie hatte so einen lustigen Akzent, wie die meisten Deutschen. Aber manchmal sprachen wir auch Deutsch, und später, als ich diese Sprache etwas besser konnte, immer öfter.

Nimm dir noch ein Stück Kuchen …

Was sagst du? Du bist schon satt? Das kann ich nicht glauben. Für ein Stück hast du sicher noch genug Hunger.

- In meinem Magen ist immer Platz für Apfelkuchen, das hat Rosa einmal gesagt.

Und es stimmt, für mich ist das auch so, bis heute.

Wenn ich in diesen Kuchen beiße, dann sehe ich alles wieder vor mir, dann bin ich zurück in der alten, kleinen und ein wenig zu dunklen Wohnung von Rosa. Ich sitze auf ihrem Schoß und sie singt mir Lieder aus Deutschland vor und erzählt mir, wovon sie handeln. „Es zieht eine dunkle Wolk‘ herein“ … Dieses Lied hat sie geliebt, aber ich fand immer, es passt nicht gut zum Leben hier, es geht nämlich um den Regen und darum, dass die Sonne nie kommt. Bei uns scheint die Sonne die meiste Zeit, so ein Lied hätte in Armenien niemand geschrieben. Wahrscheinlich hat es Rosa an ihre Heimat erinnert, darum hat sie es gerne gesungen.

Manchmal sang sie auch „Sah ein Knab ein Röslein stehen“. Ich habe damals noch nicht gewusst, dass der Text von Goethe stammt, das habe ich erst später erfahren, als ich Deutsch studiert habe. Dieses Lied mochte ich nicht so gern. Es klang zwar schön, aber der Text gefiel mir nicht. Warum bricht der Knabe das Röslein? Das habe ich mich immer gefragt. Und warum müssen die beiden überhaupt streiten?

Ich habe immer gerne Blumen gepflückt, wenn ich bei meinem Onkel im Dorf war, ich habe Kränze daraus gemacht und aufgesetzt, das macht wahrscheinlich jedes Mädchen gern. Ich habe meinen Blumenkranz getragen, und das war meine Krone. Dann war ich eine Prinzessin und die anderen meine Diener. Oder sie waren Soldaten und mussten für mich kämpfen.

Aber nachdem mir Rosa das Lied vom Heidenröslein vorgesungen hatte, habe ich eine Weile keine Blumen mehr gepflückt, ich wollte sie nicht brechen, ich wollte nicht wie dieser Knabe sein. Später habe ich das natürlich irgendwann vergessen und trotzdem wieder Blumen gepflückt.

Eigentlich sind die deutschen Lieder fast alle traurig, finde ich. Auch in dem vom Lindenbaum, das Rosa gerne gesungen hat, geht es um einen Mann, der auszieht und in die Ferne geht. Er lebt weit weg von zu Hause, er ist traurig und denkt an die schöne Zeit, die er beim Lindenbaum gehabt hat. Und ich glaube, er ist auch ein bisschen einsam, er hat ja seine Liebste dort zurückgelassen.

Oder denk an das Lied „Es zogen einst fünf wilde Schwäne“. Das habe ich geliebt, vielleicht mehr als alle anderen. Die Jungen ziehen darin in den Kampf und kommen nicht mehr zurück. Und die Mädchen bleiben allein. Auch sehr traurig.

Aber weißt du, wenn Rosa dieses Lied gesungen hat, dann war es nicht wichtig, wie traurig es ist. Dann habe ich meinen Mund voll Apfelkuchen gehabt und habe ihren warmen weichen Körper gespürt und ihren ganz eigenen Duft gerochen. Wenn sie eingeatmet hat, hat sie mich auf ihrem Schoß ein bisschen nach vorne geschoben. Und wenn sie ausgeatmet hat, bin ich wieder zurückgesunken.

Wenn Rosa dieses Lied für mich gesungen hat, war ich selbst ein wilder Schwan, der auszog. Aber nicht in den Kampf, ich flog lieber über Jerewan, über Armenien und weiter, bis nach Deutschland. Ich flog über die Wälder und Seen und Felder und sah hinunter auf die Menschen. Und ich sah auch Rosas Mann, wie er eine Straße entlang ging. Ich winkte ihm zu und rief: Komm, flieg mit mir! Wir reisen zusammen nach Armenien, zu Rosa. Das ist doch deine Frau, die willst du sicher wiedersehen. Und er rief: Wie gerne möchte ich sie sehen! Das nächste Mal fliege ich ganz bestimmt mit, aber heute geht es leider nicht, heute muss ich noch so viel erledigen. Das Dach auf meinem Haus hat ein Loch, das muss ich reparieren, sonst regnet es herein. Und das Sofa und der Teppich und der schöne Schrank werden nass. Holz muss ich auch noch für den Winter hacken. Und für den Sonntag muss ich einkaufen, sonst habe ich nichts zu essen zu Hause. Das verstehst du doch, oder?

Natürlich verstand ich das, wer wollte schon ein Loch im Dach haben und ein nasses Sofa, das dann vielleicht zu stinken anfing. Oder im Winter ein kaltes Wohnzimmer. Bevor man so eine große Reise machte, von Deutschland bis nach Armenien, musste natürlich alles in Ordnung sein im Haus.

Und so flog ich allein weiter, über Apfelbäume und Weizenfelder, und am liebsten hätte ich Rosa ganz viele Äpfel mitgebracht. Dann könnte sie jeden Tag Apfelkuchen backen und ich bei ihr am Schoß sitzen. Aber wie sollte ich so viele Äpfel mitnehmen, ich war nur ein kleines Mädchen oder vielleicht ein Schwan. Ich konnte nicht viel tragen, ich wollte ja weiterfliegen, immer weiter. Und ein Sack voll Äpfel hätte mich hinuntergezogen auf die Erde.

Jetzt bin ich ein bisschen abgeschweift, das tut mir leid, ich wollte dir ja erzählen, warum ich Deutschlehrerin geworden bin. Das hast du doch gefragt, oder?

Ich wollte also eigentlich Archäologin werden, das habe ich dir ja schon gesagt. Aber irgendwann hatte ich so oft gehört, wie unbequem das ist, wie die Sonne im Sommer brennt und die Kälte im Winter sticht. So oft hatte ich es gehört, dass ich anfing, es selbst zu glauben. Und so dachte ich mir: Warum nicht Deutsch? Das kannst du gut, da bist du die Klassenbeste. Werde Deutschlehrerin! Aber natürlich war das nicht der einzige Grund, es gab ja auch noch Rosa, die war viel wichtiger als irgendwelche Noten in der Schule. Und ich mochte die deutsch Sprache einfach und interessierte mich für das Land. Ich wollte selbst gerne einmal dahin reisen und die Leute kennenlernen. Das sind doch gute Gründe, Deutsch zu studieren und Lehrerin zu werden, findest du nicht?

Ob ich es je bereut habe, dass ich nicht Archäologin geworden bin? Ich weiß nicht, vielleicht manchmal. Aber ich liebe die deutsche Sprache auch heute noch sehr, und immer im Sommer setze ich mich unter einen Baum in den Schatten und im Winter neben den heißen Ofen. Dann denke ich mir: Hier ist es bequem, ich muss jetzt nicht raus, nicht in der Erde graben. Mein Onkel und meine Mutter haben schon Recht gehabt.

Du bist nach Armenien gekommen, um hier ein halbes Jahr Deutsch zu unterrichten, das Goethe Institut hat dich geschickt. So bist du in meiner Schule gelandet. Und jetzt in meiner Küche, wo du Rosas Apfelkuchen isst. Und mich haben sie in die andere Richtung geschickt, von Armenien nach Deutschland. Damit ich mehr über das Land lerne, damit ich den Kindern hier besser erzählen kann, wie es dort ist. Ich war mehrmals in Deutschland im Lauf der Jahre, habe sogar ein Semester dort studiert. Es hat Spaß gemacht, ich habe viele neue Orte kennengelernt und viel Leute aus der ganzen Welt. Ich habe das Brandenburger Tor gesehen, den Kölner Dom und die Marienkirche in München. Ich habe verstanden, dass die deutsche Bahn immer zu spät kommt und dass es in Berlin mehr Dönerverkäufer gibt als in Istanbul.

Aber soll ich dir ein Geheimnis verraten? Eigentlich habe ich diese Reisen gar nicht gebraucht. Eigentlich habe ich schon vorher alles Wichtige gewusst. Weil ich immer auf Rosas Schoß mit den Schwänen über Deutschland geflogen bin. Weil sie mir erzählt hat, wie es dort aussieht, was die Leute machen, was sie essen, was sie lieben.

Natürlich, jetzt ist eine ganz andere Zeit, sagst du, es ist nicht mehr das gleiche Deutschland, das Rosa gekannt hat. Vielleicht hast du Recht, alles ist anders geworden. Aber manchmal singe ich im Unterricht mit meinen Schülerinnen Rosas alte Lieder. Und wir fliegen zusammen mit den Schwänen über das Land. Dann spüre ich, der Unterschied ist gar nicht so groß, wie du denkst.

Du musst schon gehen?

Das ist natürlich schade, aber ich verstehe dich. Es ist spät geworden und draußen ist es schon dunkel. Auch hier in der Wohnung ist es ein bisschen dunkel. Aber ich mag es so, das erinnert mich an Rosa. Und wenn der Geruch von ihrem Apfelkuchen in der Luft liegt, so wie heute … Dann könnte man fast glauben, dass sie gleich aus der Küche kommt, sich mit mir auf den alten Sessel dort setzt und ein Lied singt.

Hier, nimm noch ein Stück Apfelkuchen, oder besser zwei, ich packe sie dir in eine Dose ein. Nimm sie mit nach Hause. Du kannst mir die Dose zurückgeben, wenn wir uns am Montag wieder in der Schule sehen.

Jetzt weißt du also, warum ich Deutschlehrerin geworden bin, zumindest ein bisschen. Und wenn du das nächste Mal zu Besuch kommst, dann erzählst du mir vielleicht ein wenig von dir. Warum du so gerne nach Armenien wolltest, um hier Deutsch zu unterrichten. Das würde mich sehr interessieren.

Ja natürlich, dann backe ich auch wieder Rosas Apfelkuchen.

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83 Personen gefällt das

22Kommentare

  • Lilian
    31.01.2024 09:22 Uhr

    Ein gelungener Text! :)

  • Martina Luger
    31.01.2024 11:15 Uhr

    Eine entzückende Geschichte.

  • Madina
    31.01.2024 11:41 Uhr

    ❤️

  • Maria
    31.01.2024 17:13 Uhr

    Super Geschichte, gefällt mir sehr!

  • Monika
    31.01.2024 18:19 Uhr

    Gefällt mir gut!

  • Pascal
    01.02.2024 10:18 Uhr

    Tolle, einzigartige Geschichte!

  • Ivelina
    01.02.2024 10:44 Uhr

    Tolle Geschichte 💕

  • Romy
    02.02.2024 16:59 Uhr

    Sehr schöne Geschichte

  • Muinakhon
    07.02.2024 08:40 Uhr

    ❤️

  • Babsi
    07.02.2024 19:15 Uhr

    So eine schöne Geschichte ❤️❤️❤️❤️

  • Barbara
    07.02.2024 19:28 Uhr

    ❤️👍

  • Barbara
    07.02.2024 19:55 Uhr

    Ein sehr schöne Geschichte 👍♥️♥️

  • Elisabeth Langer
    07.02.2024 20:02 Uhr

    Sehr schöne Geschichte

  • Gabriele
    07.02.2024 20:34 Uhr

    Eine sehr schöne Geschichte! ❤️

  • Verena
    07.02.2024 21:39 Uhr

    Super

  • Monika
    08.02.2024 07:38 Uhr

    Schöne Geschichte

  • Felix
    10.02.2024 14:31 Uhr

    Schöne Geschichte 🙂

  • Nilu
    12.02.2024 06:26 Uhr

    Wow, richtig toll 😊 und ganz schöne Geschichte ❤️

  • Nilu
    12.02.2024 06:29 Uhr

    Wow, richtig toll 😊 und ganz schöne Geschichte

  • Tatjana
    12.02.2024 10:41 Uhr

    Eine großartige Geschichte !

  • Edith
    12.02.2024 21:35 Uhr

    Eine kluge und herzerwärmende Geschichte!
    ❤️

  • Mukhsindzhon
    14.02.2024 12:30 Uhr

    👍👍👍

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