Jeden Morgen ein Brötchen mit Käse Vorlesen

06. Aug 2021Angelika Pohl
Jogger, Bild von wal_172619 auf Pixabay

Viel Mut habe ich nicht.
Vielleicht bin ich stur.
Aber ich bin nicht sehr mutig.

Ich gehe einfach nur zu meiner Arbeit.
Ich gehe immer den gleichen Weg.
Seit vielen Jahren gehe ich genau diesen Weg.
Und das soll auch so bleiben.

Ich mag meinen Arbeitsweg

An meinem Arbeitsweg stehen viele Bäume.
Vögel singen.
Eich·hörnchen jagen sich.

Ich gehe auch durch einen kleinen Park.
Dort joggen Leute.
Hunde rennen und bellen.

Und ich komme an einem Kiosk vorbei.
Davor stehen Tische.
Leute reden und trinken Kaffee.
Dort esse ich morgens immer ein Brötchen mit Käse.
„Hallo!“ hier und „Hallo!“ da.
Wir kennen uns.

Die Neuen am Kiosk

Ich kam aus dem Urlaub zurück.
Zwei Wochen war ich weg.
Ich war am Meer.
Und als ich wieder zur Arbeit ging,
standen neue Leute am Kiosk.
Das ist jetzt ein paar Wochen her.

Die Neuen – das sind drei.
Zwei Frauen und ein Mann.
Ich glaube, sie sind so alt wie ich.
Also ungefähr 40.
Sie haben einen Hund dabei.
Einen Hund mit Maulkorb.

Die drei lachen viel.
Sie lachen sehr laut.

Die Neuen reden auch sehr laut.
Dadurch müssen alle mithören,
was sie sagen.

Die drei rauchen.
Ihre Zigaretten·stummel werfen sie immer auf den Boden.
Und die Neuen sind die Einzigen,
die ihre Tassen stehen lassen.
Alle anderen bringen Tasse und Teller zurück in den Kiosk,
bevor sie gehen.
Das ist ja auch das Normale.

Sie sagen: „Hallo, Schwongo!“

Die drei trinken genau dann Kaffee,
wenn ich am Kiosk ankomme.
Gleich am ersten Tag fing es an.
Ich kam zum Kiosk, holte mein Brötchen,
und die eine Frau sagte:

„Guck dir die an!
Eine schwarze Mongo!
Das hab ich ja noch nie gesehen.
Wohin sollen wir dich denn zurück·schicken?
In die Mongolei oder nach Afrika?“

Seitdem sagen sie Schwongo zu mir.
Das Wort haben sie erfunden:
Sie haben schw von schwarz genommen
und ongo von Mongo.

Jeden Morgen sagen sie: „Hallo, Schwongo!“
Und dann lachen sie laut.

Das N-Wort

Manchmal sagen sie das N-Wort.
Ich schreibe das N-Wort hier nicht auf,
denn es ist eine Beleidigung.
Noch schlimmer als Mongo.
Ich spreche das N-Wort auch nie aus.
Aber:
Lesen Sie Regen rückwärts.
Dann wissen Sie,
welches Wort gemeint ist.

Die drei finden das sehr witzig.
Ein Wort,
das man in beide Richtungen lesen kann.
Vorwärts und rückwärts.
So wie Lager und Regal.
Oder wie ein und nie.

Aber ihr Lieblings·wortspiel ist Regen und das N-Wort.
Wenn es regnet,
fragen sie mich:
„Na, läufst du heute wieder rückwärts?
Du Regen…“
Und dann benutzen sie das N-Wort.

Wie immer lachen sie dann.
Wie immer sehr laut.

Keiner sagt was

Keiner von den anderen sagt etwas.
Aber es lacht auch niemand mit.
Alle versuchen,
die drei Neuen nicht anzusehen.
Wer mal nicht schnell genug weg·geguckt hat,
grinst dann ein bisschen.

Manchmal steht plötzlich ein Kaffee vor mir.
Mit einem kurzen Lächeln hingestellt.
Manchmal ist mein Brötchen schon bezahlt.
Das ist beides neu.

Ich glaube,
die Leute haben ein schlechtes Gewissen.
Deshalb bekomme ich jetzt so oft etwas spendiert.
Ich glaube,
die Leute wollen mir zeigen, dass sie mich mögen.
Und deshalb trinke ich den Kaffee dann auch,
obwohl ich Zitronen·tee viel lieber mag.

Aber keiner sagt was.

Ich selber bin auch feige

Ich sage auch nichts.
Aber ich lasse mich auch nicht vertreiben.
Das ist mein Arbeitsweg.
Ich gehe diesen Weg seit vielen Jahren.
Und ich will ihn noch viele Jahre gehen.
Ich mag meinen Arbeitsweg.
Ich mag die Vögel in den Bäumen.
Ich mag die Hunde im kleinen Park.
Und ich mag den Kiosk mit den Tischen davor.

Das Brötchen mit Käse mag ich nicht mehr so gern wie früher.
Aber ich esse es.
Jeden Morgen.

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