Bäume Vorlesen

23. Jul 2021Elisabeth Steinfeld
Bäume, Bild von jplenio auf Pixabay

Mein Taschen-Tuch ist ganz nass.
Von meinen Tränen.

Vor einer Woche ist mein Vater gestorben.
Er ist ganz plötzlich gestorben.
Herzinfarkt.

Heute wurde mein Vater beerdigt.
Meine Mutter weinte.
Meine Schwestern Anna und Ronja weinten.
Meine Oma weinte.
Mein Vater ist nur 58 Jahre alt geworden.

Wir durften keine große Beerdigung machen.
Wegen Corona.
Niemand durfte singen.
Wegen Corona.
Wir durften uns nicht in den Arm nehmen.
Wegen Corona.
Obwohl wir eine Familie sind.

Ich habe meinem Vater nie gesagt, dass ich ihn lieb habe.
Ich habe meinem Vater nie gedankt.

Er hat mich in der Schule unterstützt.
Er hat mich in der Lehre unterstützt.
Er hat mir geholfen, eine Wohnung und eine Arbeit zu finden.
Er war immer da, wenn ich ihn brauchte.
Jetzt kann ich nie mehr Danke sagen.
Meine Augen brennen.
Meine Nase schmerzt.
Mein Bauch ist in Aufruhr.
Wie kann mein Vater einfach tot sein?
Von heute auf morgen?

Wir wollten doch am Sonntag zusammen wandern.
Wir lieben den Wald.
Wir lieben es, Pilze oder Heidelbeeren zu sammeln.
Wir lieben besonders die kleinen Wege, auf denen wir ganz alleine sind.
Der Wald ist immer schön. Egal zu welcher Jahres-Zeit.
Meinem Vater gehört sogar ein Stückchen Wald. Er darf Bäume fällen.

Ich habe meinem Vater immer mit dem Holz geholfen.
Sägen und Hacken.

Meine Eltern haben einen Kamin-Ofen.
Im Winter haben sie mich oft eingeladen.
Wir haben am Kamin gesessen und Zimtäpfel gegessen.
Wir werden nie mehr zusammen am Kamin sitzen.
Wir werden nie mehr zusammen Zimtäpfel essen.
Wir werden nie mehr zusammen wandern oder in ein Konzert gehen.
Ich bin so traurig.
Mein Vater ist einfach nicht mehr da.

„Sei nicht traurig“, sagt meine Mutter. Sie weint nicht mehr.
„Ich bin froh, dass es so schnell ging. Ich bin froh, dass er keine Schmerzen hatte. Einfach tot, so möchte ich auch sterben.“
Ist meine Mutter nicht traurig?

„Hör auf zu weinen“, sagt meine Großmutter. Sie weint nicht mehr. „Männer weinen nicht!“
Warum nicht?
Ich bin traurig.
Ich kann nicht anders.
Ich muss weinen.
„Es ist gut, dass du weinst“, sagt meine Schwester Ronja.

Ich wollte meinen Vater im Wald begraben.
Meine Mutter wollte meinen Vater auf dem Fried-Hof begraben.
Meine Schwestern Anna und Ronja auch.
Jetzt ist mein Vater auf dem Friedhof begraben.
Morgen ist das Grab fertig.
Dann werde ich auf dem Grab eine ganz kleine Eiche pflanzen.
Morgen, nach der Arbeit.

Ich bin Gärtner.
Wenn das Wetter trocken ist, mag ich meine Arbeit. Dann darf ich pflanzen, hacken und Rasen mähen.
Wenn die Sonne scheint, liebe ich meine Arbeit.
Wenn es regnet, muss ich Pflanzen verkaufen.
Wenn es regnet, mag ich meine Arbeit nicht.

Kann ich morgen überhaupt arbeiten?
Auf der Arbeit darf ich nicht weinen.

Die Beerdigung ist vorbei.
Wir trinken Kaffee und essen Butterkuchen.
Danach muss ich nach Hause fahren.
Ich muss schon wieder weinen.
Ich hole ein neues Taschen-Tuch heraus.
Ich kann nicht nach Hause fahren.
In meiner Wohnung bin ich ganz alleine.
Wer kann mir helfen?
Mein Vater kann mir nicht mehr helfen.
Er ist tot.

Jetzt fragt meine Schwester Anna:
„Möchtest du diese Nacht bei uns schlafen?“
Meine Schwester Anna ist Lehrerin.
Meine Schwester Anna hat einen netten Mann und einen Hund.
Der Hund heißt Anton.

Anna legt mir die Hand auf die Schulter.
Ich sage: „Ja, ich möchte gerne bei dir schlafen.“
Dann bin ich heute Nacht nicht allein.
Dann kann ich Anton streicheln.“

Meine Mutter fährt meine Großmutter nach Hause.
Meine Schwester Ronja geht zur S-Bahn.

Anna und ich sind allein.
Anna geht zu ihrem Auto.
„Ich bin doch auch so traurig, Malte“, sagt sie.

„Können wir noch einen kurzen Spaziergang durch unseren Wald machen?“, frage ich.
Anna sagt ja.

Wir fahren zum Wald.
Es dämmert schon.
Wir gehen los.
Auf der ersten Lichtung steht eine große Eiche.
Ich lehne mich an den Stamm.
Ich schließe die Augen.
Fast kann ich meinen Vater sehen.
Dies ist sein Lieblingsbaum.
Nein, dies war sein Lieblingsbaum.
Er duftet wie mein Vater, wenn er aus dem Wald kam.
Ich muss weinen.
Gleich-zeitig fühle ich mich getröstet.
Mein Vater ist tot.
Aber an diesem Baum kann ich ihn spüren.
In diesem Wald kann ich ihn spüren.

Ich werde am Sonntag alleine wandern.
Dann kann ich an meinen Vater denken.
Ich werde meiner Mutter das Holz hacken.
Dann kann sie weiter den Ofen heizen.
Der Wald, ist der Ort, wo ich meinem Vater immer nahe bleiben werde.

„Wir können fahren, Anna“, sage ich.

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